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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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russischen Imperiums stand.
    Mir war, als sei ich plötzlich in dem Teich, in dem ich mein Leben lang herumgetaucht war, auf die »Titanic« gestoßen.
    Der Anfang
    Das Wort Werschbolowo ist ein reines Mißverständnis. Es handelt sich um die Übersetzung von Virbalis, dem Namen einer Kleinstadt im Südwesten von Litauen, ins Slawische. Virbalis wiederum geht offenbar auf das noch ältere Viršbalis zurück, die Bezeichnung für einen Ort, der über einem Sumpf liegt.
    Als sei das noch nicht kompliziert genug, stand dieser Bahnhof einhundert Jahre lang in Kybartai, einem Städtchen, das fünf Kilometer von Virbalis entfernt ist.
    Es gibt mehrere Versionen, die erklären sollen, warum der Bahnhof Werschbolowo so weit außerhalb von Virbalis liegt. Die eine besagt, die Stadtväter von Virbalis hätten sich
geweigert, den russischen Machthabern Schmiergeld zu zahlen, weshalb die Bahnlinie einen Bogen um die Stadt machen mußte. Einer zweiten, glaubwürdigeren Version nach sollte der Bahnhof in Virbalis gebaut werden, doch da sich die Grenze in fünf Kilometern Entfernung befand, hätten Menschen und Güter zwischen dem russischen und dem europäischen Schienennetz mit Pferdewagen transportiert werden müssen. Die Ingenieure hätten den Fehler korrigiert, aber den Bahnhof nicht umbenannt.
    Die ganze Suppe wurde in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eingerührt, als man mit dem Bau der Bahnstrecke St. Petersburg–Warschau begann. Doch lassen wir diese Eisenbahn einfach links liegen, soll sie ruhig nach Warschau rollen, von dort nach Wien und weiter nach Südeuropa. An dieser Bahnlinie war ein Abzweig nach Ostpreußen vorgesehen. Und an einem Ende dieses Abzweigs wuchs das gigantische Monster Werschbolowo – ein Bahnhof der höchsten Kategorie, mit riesigen Hallen, Hotels, Restaurants in drei Klassen, einem Zollamt, Appartements für den Zaren und seine Familie, einem Depot für den persönlichen Zug des Zaren und einem weiteren für die übrigen Dampfloks und Waggons und mit all den anderen Gebäuden, die für sehr große Grenzbahnhöfe charakteristisch sind und deren Aufzählung ungeheuer viel Zeit in Anspruch nehmen würde.
    Entworfen wurde der Bahnhof von Franzosen, erbaut von Deutschen, und die ersten Züge hielten dort im Jahre 1861. Doch der Bahnhof kann damals noch nicht fertig gewesen sein, denn in Gražinas Hof steht ein kleines Kraftwerk, über dessen Eingang in roten Ziegeln die Jahreszahl »1865« prangt.
    Auch als Symbol für Rußlands Westgrenze nahm Werschbolowo nach und nach Gestalt an. Dostojewski läßt die Helden seines Romans »Der Idiot« mit dem Zug von St. Petersburg noch über Eydtkuhnen in den Westen fahren. Eydtkuhnen, das heutige Tschernyschewskoje, war ebenfalls ein Grenzort, aber schon auf der preußischen Seite, jenseits des Flüßchens Liepona, über das meine Freunde und ich einhundert Jahre später das Kupfer nach Litauen bringen würden.
    Dostojewski schrieb 1863 in seinen »Winteraufzeichnungen von Sommereindrücken«: In dem Augenblick, da wir durch Eydtkuhnen rollen, nehmen wir sogleich erschreckende Ähnlichkeit an mit jenen kleinen, unglücklichen Hündchen, die hier, von ihren Herren ausgesetzt, umherstreunen.
    Auch hier klingt er wieder an, der ewige Minderwertigkeitskomplex eines Russen, der nach Europa kommt. Da von dieser Behauptung Dostojewskis bis zur eingangs zitierten Erklärung Majakowskis noch ein halbes Jahrhundert vergehen wird, ist die Schlußfolgerung erlaubt, daß sich die russischen Komplexe gegenüber Europa in diesem Zeitraum nicht geändert haben. Nur die Namen änderten sich. Ein neuer Grenzpfahl wurde ins russische Bewußtsein geschlagen – Werschbolowo, der das schwer auszusprechende und zum Reimen kaum geeignete deutsche Eydtkuhnen ersetzte.
    Die Blüte
    Das Projekt eines Bahnhofs von solchen Ausmaßen lockte alle möglichen gewitzten und gescheiterten Geschäftsleute an; aus den Tiefen des russischen Reiches, aber auch aus anderen Grenzregionen kamen sie nach Werschbolowo. Der jüdische Eisenbahner Ilja Lewitan war schon da, bevor hier die ersten Dampflokomotiven auftauchten. Im Jahre 1860 wurde in Kybartai sein Sohn Isaak Lewitan geboren, der zukünftige Klassiker der russischen Kunst und ein Genie der Landschaftsmalerei.
    Die Ausmaße des Bahnhofs und die Anzahl seines Personals nahmen auch dadurch zu, daß hier nicht nur Pässe und Güter kontrolliert wurden. Die Russen verwendeten Gleise englischer Norm, die breiter waren als im übrigen Europa.

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