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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Bahnhof Virbalis auf.
    Immer wenn Litauen von Rußland unabhängig wird, müssen wieder dieselben Probleme gelöst werden: Was soll mit dem Erbe geschehen, mit jenen industriellen und anderen Giganten, die auf alle Bedürfnisse des riesigen Rußlands abgestellt waren und sich schließlich als zu teuer erweisen, als daß ein kleiner Staat sie hätte nutzen können.
    Der Bahnhof Virbalis war für Litauen schlicht gesagt zu groß. 1918 mußte nicht nur der gewaltige Bahnhof, sondern das gesamte Eisenbahnnetz übernommen werden. Deshalb rollte der erste litauische Zug langsam zum Bahnhof Virbalis und blieb häufig stehen, weil die Maschinisten Bäume fällen mußten, um die Dampflok zu heizen.
    Übrigens war die mit Holz befeuerte Dampflokomotive keine litauische Erfindung. Diesen Treibstoff verwendeten auch die teuersten Züge, die schon vor dem Ersten Weltkrieg durch Rußland fuhren. Daran erinnert sich jedenfalls Vladimir Nabokov in »Erinnerung, sprich!«. Der Nordexpreß, in jenen Tagen noch groß und herrlich (nach dem Ersten Weltkrieg, als sein elegantes Braun zu einem neureichen Blau wurde, war er nie wieder der gleiche), bestand ausschließlich aus solchen Wagen, verkehrte nur zweimal die Woche und verband St. Pe
tersburg mit Paris. Ich hätte gesagt: direkt mit Paris, wären die Reisenden nicht genötigt gewesen, einmal in einen ihm oberflächlich gleichenden Zug umzusteigen – an der russisch-deutschen Grenze (Werschbolowo-Eydtkuhnen), wo die normale europäische Spurweite von 1 m 435 mm die breite und behäbige russische von 1 m 524 mm ablöste und Kohle an die Stelle der Birkenscheite trat.
    Neues Leben wurde dem Bahnhof Virbalis auch dadurch eingehaucht, daß Litauen nach der Okkupation von Vilnius die diplomatischen Beziehungen mit Polen abbrach und der einzige Weg nach Westeuropa durch Virbalis führte. Die vormalige Route St. Petersburg–Berlin wurde durch die Strecke Riga–Berlin ersetzt, die für die Litauer, Letten und Esten nicht weniger bedeutsam war als für die Russen, die zwischen Westeuropa und Sowjetrußland hin und her reisen durften.
    Einem von ihnen, dem Komponisten Sergej Prokofjew, hat sich auf seiner Reise nach Sowjetrußland im Jahre 1927 am stärksten die langsame litauische Eisenbahn eingeprägt:
    Morgens in Eidtkuhnen, an der ehemaligen russischen Grenze, der jetzigen Grenze zwischen Deutschland und Litauen. Umsteigen vom Spezialwagen auf den normalen. Kalt und frostig. […] Die Litauer sind höflich und ruhig und sprechen russisch, als wäre man nicht in Litauen, sondern in Rußland. Der Zug schleppt sich mühsam voran. In alten Zeiten bewegte er sich auf dieser Strecke anders. Im Speisewagen sprach mich Piotrowsky an – ein Tenor [Kipras Petrauskas, der berühmteste litauische Tenor der Zwischenkriegszeit, M . I .] , der irgendwann mit mir zusammen am Konservatorium studiert hatte. Er ist Litauer, wie sich herausstellte, und in Anbetracht der musikalischen Ärmlichkeit Litauens der erste Musiker in seinem Land. […] Ein lan
ger und langweiliger Tag. Der Zug schleppt sich zäh voran … Ich frage Piotrowsky, warum unser Zug so kriecht. Er antwortete philosophisch: »Sehen Sie, das Land ist klein. Je langsamer man durchfährt, um so größer wirkt es.«
    Das kleine Land ging mit dem großen Bahnhof recht klug um, viel klüger als später die große UdSSR , die zum neuen Hausherrn in Virbalis wurde. Die Bahnhofsbauten, die wegen des geringeren Menschen- und Güterstroms nutzlos geworden waren, wußte man in der Zwischenkriegszeit den Bedürfnissen der Stadt anzupassen. Im Bahnhof ließen sich verschiedene Einrichtungen nieder, die mit der Eisenbahn nur so viel zu tun hatten, wie das Städtchen Kybartai überhaupt mit ihr verbunden war. In den einstigen Appartements des Zaren befand sich das Stadtgericht, und in der großen Bahnhofshalle, deren Dach eine gläserne Kuppel schmückte, feierten die Einwohner von Kybartai Silvester und andere wichtige Feste. Wenn nötig, wurde die Halle auf die Bedürfnisse der damals in der Entwicklung begriffenen zweiten Religion Litauens eingestellt: des Basketballs. Ein alter Freund von Väterchen, Leonas aus Kybartai, war 1939 unter den Zuschauern, als sich die litauische Basketballnationalmannschaft zweimal auf dem Weg ins Ausland in der Bahnhofshalle von Kybartai einem Freundschaftsspiel mit der Mannschaft von Kybartai stellte. Als Pranas Lubinas, der litauische Mittelfeldspieler mit Erfahrung in der amerikanischen National Basketball

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