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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Die Reisenden trafen in Werschbolowo auf diesen Gleisen ein, durchliefen die Paß- und Zollkontrolle und stiegen dann in einen Zug um, der auf Gleisen deutscher Norm stand. Bedenkt man, daß auf diese Weise sämtliche Güter von Rußland in den Westen und in umgekehrter Richtung transportiert wurden und über Werschbolowo ein Zehntel des gesamten Imports und Exports von Rußland abgewickelt wurde, bekommt man eine Vorstellung von der eindrucksvollen Dimension der Gleisanlagen, Waggons, Dampfloks und Lagerhallen.
    Vielleicht war es auch aus diesem Grunde unvermeidlich, in Werschbolowo Luxusappartements für den russischen Zaren und seine Familie sowie ein Depot für seinen persönlichen Zug zu bauen, in dem das Monstrum dann herumstand und darauf wartete, daß sein Hausherr und Herrscher über ganz Rußland ins Ausland reiste. Ich habe
ausgezeichnet geschlafen , schrieb Nikolaus II . am 18. Oktober 1896 in sein Tagebuch: Der Tag war grau, doch nicht kalt. Alix und Ella wurde schlecht, obwohl wir nicht schnell fuhren. Mit Interesse las ich Pawlows ›Geschichte Ru ßlands‹. Um 7.30 abends trafen wir in Werschbolowo ein, nach fast zweimonatiger Abwesenheit von Rußland! Wir stiegen in unseren vorigen (Kursker) Zug um. Ein Feldjäger kam noch mit den Papieren hier an. Wir aßen um 8.15 Uhr.
    Obwohl der Zar stets von seiner persönlichen Leibwache begleitet wurde und die Bahnhofsgendarmerie ihn bei Ankunft vor unnötigen Blicken sorgfältig schützte, suchte die Familie des Herrschers hin und wieder die Begegnung mit dem »Volk«. Einmal versprach der Sohn von Nikolaus II ., Alexej, den Kindern von Kybartai eine Schule. Das erste Knaben-Gymnasium wurde hier 1912 gegründet und erhielt seinen Namen.
    So waren die Leute von Kybartai stets privilegiert: Stießen sie bei den einheimischen Bürokraten auf taube Ohren, so konnten sie sich direkt an die höchste Instanz wenden, falls diese »Instanz« sich zufällig im Bahnhof aufhielt. Anfangs waren die russischen Zaren die Wohltäter, später die litauischen Präsidenten und schließlich die ersten Sekretäre der Kommunistischen Partei der UdSSR . Der letzte, an den sich eine Einwohnerin von Kybartai persönlich mit einer Bitte wandte, war Nikita Chruschtschow.
    Wie an allen großen Knotenpunkten der Welt blühte auch hier neben dem offiziellen Handel der Schmuggel. Wir mit unseren Rucksäcken voll Kupfer waren da wirklich nicht die ersten.
    Die Anfänge des Bahnhofs Werschbolowo fielen in die Zeit des bewaffneten polnisch-litauischen Aufstands von
1863, den die russischen Machthaber niederschlugen und zum Anlaß für Repressalien und eine strikte Russifizierung nahmen. In Litauen wurde das litauische Alphabet verboten und die kyrillische Schrift eingeführt. Damals begann man, litauische Bücher in Ostpreußen zu drucken. Bücher wurden zum beliebtesten und meist verbreiteten Schmuggelgut (für mich als Philologe ein Phänomen von ganz eigenem Reiz). Als Zar Nikolaus II . im Jahr 1904 das Verbot aufhob, waren bereits ganze Ströme geschmuggelter Bücher durch Werschbolowo geflossen. Weit bedrohlicher für die Grundfesten des Imperiums war die illegale kommunistische Literatur, die über Werschbolowo ins Land kam. Vielleicht ließ man deshalb die litauischen Bücherschmuggler in Ruhe und legalisierte ihr »Geschäft«.
    Bereits 1895 traf Lenin über Eydtkuhnen in Werschbolowo ein und wurde vom Zoll gründlich durchsucht, verbotene Literatur oder Flugblätter fand man jedoch nicht.
    Auch der Dichter Alexander Blok hat miterlebt, wie die Zöllner von Werschbolowo vornehmlich Jagd auf Bücher machten. Er passierte Werschbolowo 1909 auf dem Rückweg aus Italien: Spätnachts reihte man im riesigen, nach Karbol stinkenden dunklen Saal des Zolls von Werschbolowo die Passagiere des deutschen Zugs an einem schmutzigen Tisch auf und fing an, sie zu durchsuchen. Man durchsuchte sie lang, trug die Bücher von irgend jemandem in Kiepen in irgendeine Abteilung – liebenswürdig und warnend. Am Ende der Operation zeigte sich, daß die letzte Prüfung bestanden war, und die Seele war erleichtert.
    Der Niedergang
    1914 begann der Erste Weltkrieg, und der Bahnhof Werschbolowo hieß nun Wirballen. Kybartai wurde zweimal stark zerstört: am Anfang und am Ende des Krieges. Aber es wurde schnell wieder aufgebaut, und 1918, als Litauen seine Unabhängigkeit ausgerufen hatte, erhielt der Bahnhof wieder einen anderen Hausherrn und einen neuen Namen. So tauchte an der litauisch-deutschen Grenze der

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