Das wilde Leben
In meiner Erinnerung ist es immer noch orangerot.
Im Hof, hinter dem Gewächshaus für die Rosen, wuchsen Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Aprikosenbäume. Ein Stück weiter Stachelbeerbüsche und Johannisbeersträucher. In den Stachelbeeren sehe ich mich in meiner Erinnerung am häufigsten.
Gleich neben dem orangeroten Haus befand sich der repräsentative Teil des Gartens, mit einem kleinen Bassin, mit Wasserlilien und einem Springbrunnen, einem sorgfältig gepflegten Rasen und Ziersträuchern. Hier stand auch der erste und einzige Pfirsichbaum des Städtchens.
Häufig kamen Leute aus Kybartai an die Pforte und baten um Rosen, und Väterchen war sehr gekränkt, wenn sie ihm für die Blumen Geld anboten.
Außerdem verjagte er mich und meine Cousins von dem
»repräsentativen« Rasen. Wir durften nur auf den mit Steinplatten bedeckten Pfaden herumlaufen. Außerdem schimpfte er, wenn wir die Hände ins Bassin steckten, denn das Bassin war tief. Und er kam immer zu spät, wenn Baba die ganze Familie zum Mittagessen rief.
Oft fuhren wir zum Einkaufen ins Kaliningrader Gebiet. Ich erinnere mich nur noch an die dichten Baumreihen am Straßenrand. Und an die mit kyrillischen Buchstaben markierte Stadtgrenze Нестеров, die ich, da ich kyrillisch nicht verstand, als »Heztepob« las. Alle schütteten sich aus vor Lachen.
Abends saßen wir im Obergeschoß des Hauses auf abgewetzten Sofas und sahen fern. Bei Fußballübertragungen blieb nur der männliche Teil der Familie im Zimmer. Mein Vater aß beim Fernsehen immer eine große Schüssel Äpfel. Er mochte Äpfel, und in Molėtai, am anderen Ende von Litauen, hatten wir keinen Garten, nur ein kleines Beet in einem Gemeinschaftsgarten.
Danach gingen wir alle schlafen. Von der Wand ließ sich ein Doppelbett herunterklappen, das Väterchen selbst gezimmert hatte. Dort schliefen meine Eltern, während ich im Nebenzimmer untergebracht war, mit dem Fenster zur Straße. Vor dem Einschlafen lauschte ich dem Geräusch der vorbeifahrenden Züge. Es fiel mir schwer, mich an das Donnern der Gleise zu gewöhnen, denn in unserem Städtchen am anderen Ende von Litauen gibt es ja keine Eisenbahn.
Väterchen starb 1981, und das Haus mußte verkauft werden. Ich war damals neun Jahre alt.
Danach fuhren wir nur noch zweimal im Jahr nach Kybartai. Zu Väterchens Todestag und zu Allerseelen im No
vember, wenn ganz Litauen beim Besuch seiner Toten den Verstand verliert. Ein schöner Feiertag. Er macht mich überhaupt nicht traurig.
Wenn wir am Grab gewesen waren, fuhren wir immer langsam an dem einst orangeroten Haus vorüber, dem die neuen Besitzer ein Granitgrau verpaßt hatten. Wir schauten bei Gražina herein, der einzigen in Kybartai gebliebenen entfernten Verwandten, und tranken Kaffee zu belegten Broten.
Dann kamen die Jahre 1990/91, Litauen erhielt seine Unabhängigkeit zurück, und meine ehemaligen Schulfreunde verführten mich zum Kupferschmuggel. Wir fuhren über Kybartai nach Kaliningrad, kauften dort verschiedenen Plunder aus Kupfer und vertickten ihn in Litauen. Und dann rollte der ganze Kupferkram in Eisenbahnwaggons nach Deutschland.
In Zügen versteckt und in einem alten Moskwitsch schafften wir das Metall heran, wir verbargen es sogar unter der Motorhaube. Einmal sprangen wir mit Rucksäcken voller Kupfer über die Liepona, das Flüßchen, das Kybartai vom Kaliningrader Gebiet trennt. Nach einer erfolgreichen Mission aßen wir im Restaurant zu Abend und übernachteten bei Gražina, der wir als Geschenk eine große Flasche Schnaps der Marke »Royal« mitbrachten. Und wenn wir an der Grenze Ärger bekommen hatten, tranken wir den »Royal« in unserem namenlosen Schmerz selbst aus – unverdünnt.
Später wurde die Staatsgrenze immer besser bewacht, und unser »Geschäft« lief nicht mehr. Wir gingen auseinander.
Und ich kam wieder nur noch zu zwei Anlässen nach Kybartai. Langsam fuhren wir dann an unserem ehemaligen
Haus vorüber, schauten bei Gražina herein und tranken zu belegten Broten Kaffee.
Einmal führte uns Gražina in den Hof und zeigte uns eine alte rissige Marmorwanne und sagte: »Das ist die Badewanne des russischen Zaren.« Sie stand bereits seit vielen Jahren in ihrem Holzschuppen, vielleicht könnten wir einen Käufer für die Wanne finden.
Erst da begriff ich, daß ich meine ganze Kindheit über immer nach Werschbolowo gefahren war und nur fünfzig Meter von jenem Ort entfernt gewohnt hatte, wo einst ein riesiger repräsentativer Bahnhof des
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