Das wilde Leben
Association, den Ball von oben in den Korb warf, schrie das Publikum erstaunt auf. So ein Wunder hatte hier noch keiner gesehen.
Für die erwachsenen Einwohner von Kybartai war der Bahnhof die Haupteinnahmequelle und für die Kinder ein
gigantischer Vergnügungspark, der das ganze Jahr geöffnet hatte. Die Bahnhofspolizei vertrieb barfüßige oder in Holzpantoffeln herumlaufende Halbwüchsige, so daß die Kinder sich ihre nur für Feiertage vorgesehenen Schuhe anzogen, um den Zug Riga–Berlin zu empfangen. Dann umringten sie die Wagenfenster und malten mit den Fingern ein Rechteck in die Luft, was soviel hieß wie »liebe Ausländer, die wir eure Sprache nicht sprechen, schenkt uns eine Postkarte mit einem Bild aus dem Ausland«. Und so ergänzte jeder Nord-Ost-Expreß die Sammlung der Kinder von Kybartai mit immer neuen Ansichten von europäischen Städten.
Im nördlichen Teil des Bahnhofs befand sich ein wunderbarer Park, den die Ortsansässigen Eisenbahngarten nannten. Mit Tennisplätzen und sogar einer Bowlinghalle. Der wichtigste Akzent des Eisenbahngartens aber war eine hohe, mit Linden bepflanzte Anhöhe, wo abends ein Blasorchester spielte, auf dem kleinen Platz davor tanzten die Paare. Im Winter legte man auf diesem Platz und den Wegen ringsum eine Eisbahn an. Dann war der Eisenbahngarten eine große, von Laternen beleuchtete Eisfläche.
Die höchsten Repräsentanten des Staates besuchten auch weiterhin das Grenzstädtchen. Der autoritäre litauische Präsident Antanas Smetona war zwei Mal in Kybartai, unter völlig verschiedenen Umständen. Beim ersten Mal wurde die wichtigste Magistrale der Stadt, die Alte Burgstraße (Senapilė Straße) in Antanas-Smetona-Allee umbenannt. Als er im Jahr 1940 das zweite Mal herkam, hatte die Sowjetunion Litauen besetzt. Über die Straße seines eigenen Namens versuchte er, ins westliche Exil zu entkommen, wurde aber festgehalten und war gezwungen, über die Liepona
zu fliehen, ganz in der Nähe des Friedhofs, wo heute Baba und Väterchen ruhen.
Das Ende
Im Jahre 1940 kehrten die alten Herren, die Russen, zurück in den Bahnhof von Kybartai, mit der neuen sowjetischen Ideologie. Und noch ein Jahr später begann hier der Krieg. Die Nazis nahmen das Städtchen ohne Schwierigkeiten ein. Am längsten widerstanden die russischen Grenzsoldaten, die sich in der Kommandantur eingeschlossen hatten. Ihr Maschinengewehrfeuer hinderte die Nazikolonnen tagelang am Marsch über die Hauptstraße von Eydtkuhnen nach Kybartai. Schließlich zerstörte ein gepanzerter Militärzug die Kommandantur bis auf die Grundmauern.
Achtundvierzig Jahre später werden die Litauer dort, wo die gesprengte Kommandantur stand, ein Denkmal für die sowjetischen Grenzsoldaten errichten. Das Denkmal stellt einen gestreiften Grenzpfahl dar und steht weniger als hundert Meter vom Flüßchen Liepona entfernt, weshalb die späte Sowjetmacht darin eine symbolische Loslösung Litauens von der Sowjetunion gesehen hat. Eine Grenze ist vieldeutig.
Als der Bahnhof zum zweiten Mal Wirballen hieß, gestaltete sich das Leben in Kybartai mehr oder weniger genau so wie in ganz Litauen. Alle Juden, die es nicht mehr geschafft hatten, nach Osten zu fliehen, wurden erschossen. Und mit ihnen zusammen etwa ein Dutzend litauischer Kommunisten. Dem Rest bereitete die Okkupation keine größeren Schwierigkeiten. Junge Männer, die nicht in die Naziarmee einberufen werden wollten, bemühten sich um Arbeit im
Bahnhof, die in jener Zeit dem Militär gleichgestellt war, d.h. man leistete dort gleichsam Kriegsdienst. Leonas erhielt eine Anstellung als Funker. Er morste Informationen über eintreffende und abfahrende Züge nach Alvitas, die nächste Bahnstation im Osten. Sein Kollege hielt dieselbe Verbindung nach Eydtkuhnen aufrecht.
Es schien als würde der Bahnhof zum zweiten Male überleben.
1944 verschob sich die Front zurück nach Westen. Die Rote Armee, die sich in zwanzig Kilometern Entfernung eingegraben hatte, bombardierte Eydtkuhnen mit Artilleriegeschützen. Kazimieras, der Vater meiner ehemaligen Lehrerin Frau Genovaitė, war Weichensteller im Bahnhof Virbalis und hatte an jenem Schicksalsabend Wachdienst. Ein Deutscher namens Ehse (ob dies sein Vor- oder Familienname war, wird keiner mehr in Erfahrung bringen) lief, ohne sich vor Kazimieras zu verstecken, alle elektrischen Verteiler des Bahnhofs ab und verknüpfte irgendwelche Leitungen. Dann riet er Kazimieras, nach Hause zu gehen, seine Familie einzusammeln und
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