Das wilde Leben
Felsenwand des Radarraums, an den mit Stahlplatten verstärkten Beton, daran, wie selbst sie von der Explosion zerrissen worden waren. Der Trompeter holte aus und schleuderte das Geschoß mit ganzer Kraft in die Luft, hinein in den Regen und im großen Bogen über die Schlucht.
Die Detonation klang, als habe ganz in der Nähe der Blitz eingeschlagen, Árendás spürte, wie sich ihm die Härchen an den Armen aufstellten, auch das Haar auf seinem Kopf stand senkrecht, die Regentropfen fielen einen Moment lang
aufwärts, dann fielen sie wieder zurück und ritzten die gleichen Striche in den Himmel wie zuvor.
Der Trompeter trat einen Schritt von der Schlucht zurück und nickte Árendás zu. Ich hab's mir anders überlegt, sagte er, wenn die Einladung zum Tee noch steht, dann nehme ich sie gern an.
Árendás nickte, obwohl ihm der Kopf dröhnte, er sah die blitzende, gelbbronzene Trompete, sie schien ihm ganz trocken, so als seien ihr die Regentropfen ausgewichen, doch Árendás wußte, daß er einem Trugbild aufsaß und es die Druckwelle war, die ihm den Kopf ein wenig verwirrte.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
Marius Ivaškevičius
Die Zivilisation Werschbolowo
Das Rätsel
N eu ist alles nur bis Werschbolowo – was hier neu, ist nicht neu dort , lautete ein Sprichwort, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im russischen Reich weit verbreitet war. Sie werden mir zustimmen, daß man hundert Jahre später kaum noch versteht, was es bedeutet. Das gilt auch für die aufrührerische Erklärung, die der zwanzigjährige Dichter Wladimir Majakowski 1914 in der russischen Presse verbreitete: Es wird Zeit zu begreifen, daß »Europa zu sein« keine sklavische Nachahmung des Westens ist, kein Herumlaufen mit Hosenbändern, die über Werschbolowo herüberkommen, sondern eine Anspannung der eigenen Kräfte, so wie man es dort tut. Und schließlich eine dritte literarische Erwähnung dieses geheimnisvollen Werschbolowo , in einem Gedicht aus dem Jahr 1913 des damals in Paris lebenden russischen Symbolisten Ilja Ehrenburg mit dem Titel »An Rußland«:
Wenn ich sie einmal wiedersehen sollte
Die Gepäckträger, die Aufschrift Werschbolowo, […]
Verstehe ich, wie arm und klein ich vor dir bin,
Und wieviel mir in dieser Zeit verlorenging.
Die Rede ist von Rußland. Mit russischer Selbstironie und Nostalgie. Was aber ist »Werschbolowo«, dieser Eigenname, der zum Begriff wurde, weil damals offenbar jeder einigermaßen gebildete Bürger dieses Imperiums genau wußte, wovon die Rede war?
Ich werde die Geduld der Leser nicht weiter strapazieren. Werschbolowo ist ein Bahnhof im zaristischen Rußland. Ein riesiger Bahnhof, so repräsentativ und prachtvoll, daß nur der Bahnhof der damaligen Hauptstadt St. Petersburg (heute der Witebsker Bahnhof in Petersburg) mithalten konnte. Er befand sich an der Grenze zweier Imperien, Rußlands und Deutschlands. Ein Ort des Abschieds von Rußland und der Heimkehr für Zaren, Dichter, Dissidenten und einfache Bürger des Riesenreichs, deren Leben keine deutliche Spur hinterließ – außer jener von einer Generation zur nächsten überlieferten russischen Verachtung für ihr eigenes grenzenloses Vaterland, vermischt mit grenzenloser Sehnsucht.
Exkurs
Während meiner Kindheit, in den siebziger Jahren, war die Eisenbahnstrecke Molėtai–Kybartai eine meiner wichtigsten Reiserouten. Molėtai ist eine Kleinstadt in Ostlitauen. Kybartai, ein Ort fast gleicher Größe, liegt im Südwesten, an der Grenze zum Kaliningrader Gebiet, d.h. am anderen Ende von Litauen.
In Molėtai wurde ich geboren. In Kybartai lebten meine Großeltern.
Häufig versammelte sich in Kybartai die ganze Fami
lie. Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, reiste vom nördlichen Rand Litauens an, seine Schwester von der Ostseeküste im Westen. Von drei Enden Litauens kommend, trafen wir uns am vierten.
Mein Großvater, den wir zärtlich Väterchen nannten, war früher Bahnhofsvorsteher gewesen. Zu meiner Zeit züchtete er nur noch Blumen, kümmerte sich um sein Gewächshaus und brachte die seltensten Rosensetzlinge von den Blumenausstellungen der damaligen UdSSR mit.
Meine Großmutter, die alle Baba riefen, früher Feldscher und Leiterin des Eisenbahnambulatoriums, betätigte sich in meiner Erinnerung meistens nur in ihrer Küche.
Das Backsteinhaus, in dem sie lebten, stand in der Gorki-Straße und fiel durch besonders fröhliche Farben auf. Irgendwann waren seine verputzten Wände einmal zitronengelb gewesen.
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