Das wilde Leben
nur noch das Trostspiel.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Jáchym Topol
Auf dem Kissen ein Löwenkopf
I ch hocke in einer Spelunke unter der Prager Burg, zu meinen Füßen ein Berg von Einkaufstaschen. Meine Arme sind ganz ausgeleiert, die Einkäufe für meinen Vater mußte ich bis von Smíchov herschleppen. In diesem Viertel gibt es keine Supermärkte mehr, keinen einzigen Lebensmittelladen. Nur Touristenshops. Dieses Viertel ist längst nichts mehr für Alte. Heute hat man Vater ins Krankenhaus gebracht. Seit langem hat er sich mit der Aufzählung aller seiner Krankheiten die Zeit vertrieben. Seit langem hat er im Stadium durchsichtiger Hände und zittriger Gedanken gelebt. Bevor ich zu ihm gehe, setze ich mich kurz hin. Was Schlimmeres hätte ich mir kaum aussuchen können. In der Kneipe haben sich grölende britische Fußballdeppen eingenistet. Ihr biernasser Nuttentrip zum Billigtarif führt ausgerechnet an der Burg vorbei. Irgendwo anders hinzugehen bringt's auch nicht. Pizzeria, Taverne, Mexikaner oder dieses ekelhafte Lokal: alles gleich. Unter der Burg ist jedes Lokal eine Touristenfalle. Als meine Eltern noch mit mir und meinen Schwestern hier zu Mittag gegessen haben, war jeder im Viertel Onkel oder Tante.
Paß auf, daß du vor lauter Nostalgie nicht zu heulen anfängst, sage ich mir. Heute ist das hier auf jeden Fall besser
als damals. Damals hat man dort, quer über der Straße, in der Kaserne mit dem roten Stern auf der Fassade die sowjetische Besatzung verköstigt. Mit Raketen und Panzern hielten die Sowjets die tschechische Provinz und mit ihr ein Sechstel der Welt fest in Zaum. Es war der Horror. Dieses globalisierte Chaos jetzt, das ist die Freiheit. Die Verficktheit der Innenstädte zeugt von Reisefreiheit, rede ich mir beruhigend ein. Hier ist es doch genauso wie in Florenz, Kyoto oder Lissabon. Alle Menschen wollen gleich sein, Unterschiede bringen nur Unverständnis und Gewalt. Und mit ein bißchen Übertreibung wurden wir damals, 1989, in jenem in grauen Vorzeiten liegenden Jahr der osteuropäischen Revolutionen, direkt von Orwell zu Huxley torpediert. Und was ist besser?
Aber vergiß nicht, mein lieber Nostalgiker, daß viele der hiesigen Onkels und Tanten Spitzel waren und daß sie jeden Spruch, der hier zwischen Papa und seinen Freunden gefallen ist, gleich weitermeldeten. Er traf sich hier nämlich mit Dissidenten, mit den Gegnern des Regimes. Manchmal wanderte der eine oder andere in den Knast. Unser Vater nie. Das hat uns, die ganze Familie, damals ziemlich gequält, es machte sich nicht gut, wenn der Papa nicht von Zeit zu Zeit im Gefängnis saß. Später habe ich verstanden, warum meiner um den Knast herumgekommen ist. Im Gegensatz zu anderen Dissidenten schrieb er nicht über die Erbärmlichkeit des Regimes, sondern über seine eigene. Deswegen kann man sein Zeug bis heute noch lesen. Die paar Seiten, die geblieben sind. Den Rest hat er verbrannt. Über das Regime zog er zwar genauso her wie die anderen, einen würdigen Gegner lieferte ihm aber erst das unbegreifliche Universum, die erstaunliche Tatsache der menschlichen Sterb
lichkeit und auch seine Depression, diese Eisablagerung auf seinem Hirn. Damit werden viele geboren.
So richtig paßte Vater nie in das Dissidentenmilieu hinein, auch weil er vom Dorf kam. Nie hat er gelernt, wie man telefoniert oder die Straße bei Rot überquert, war aber handwerklich geschickt. Ich selbst wurde natürlich Underground-Aktivist. Nachdem man mich zum erstenmal eingelocht und wieder entlassen hatte, wurde ich endlich erwachsen. Für die meisten meiner Freunde war der erste Knast eine Initiation. Mama und meine Schwestern gaben für die Nachbarn eine Party, so wie sich das gehörte. Sie reichten Kekse aus der Wochenration herum und lobten mich pausenlos: Der steckt Ohrfeigen ein, ohne mit der Wimper zu zucken! Weigert sich auszusagen! Ja, der Junge ist schon geschickt, murmelten die Onkels anerkennend und schoben sich den nächsten Keks in den Mund … Bei den Mädchen im Viertel registrierte ich, wie mein Ansehen kometenhaft anstieg. Und Vater? Der hatte sich irgendwo verkrümelt. Wahrscheinlich vor Scham. Ihn hat man nicht eingesperrt. Er war's nicht wert! Genau damals fing er an, in die Wildnis unterzutauchen. Härtete sich ab und übte fürs Zuchthaus. Er war sicher, daß es mal kommt. Er schlief im Wald. Meine Inhaftierung hat ihn angeblich zu einem Zyklus über die Erbärmlichkeit des Vaterdaseins inspiriert. Zu einer
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