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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wenn die Wolken tief hingen und die Berge verschwanden, wurden diese Karten erschreckend glaubwürdig). Doch es näherte sich ein ungewöhnliches Spiel, für meinen Vater das wichtigste Spiel, ein Spiel höchster Rangordnung, das Spiel der Spiele, das Spiel hoch über allen Spielen, mehr als ein Spiel – denn auf dem Weg zum Halbfinale kamen uns die Sowjets in die Quere. Aus diesem Anlaß wurden sogar die Verlottertsten nüchtern, wuschen sich und vertrauten sich der heiligen Jungfrau an, sogar die hartnäckigsten Ignoranten, die beim Pfeifen des Schiedsrichters zusammenzuckten, beschlossen, sich vor den Fernseher zu setzen, erklärten, das sei keine Angelegenheit des Fußballs oder auch der Politik, das sei eine Angelegenheit der nationalen Befreiung (eine Angelegenheit ). Und so etwas konnte man sich nicht auf dem kleinen Fernseher des Bergbauern anschauen, nicht nur wegen der Unvollkommenheit des Bildes, kein Mensch wollte sich auf einem sowjetischen Apparat den Krieg mit den Sowjets ansehen, da mußte man schon scharenweise und feierlich Zeuge sein, am besten konspirativ, auf einem möglichst großen Bildschirm westlicher Produktion. Also im Pfarrhaus, im Religionssaal von Pfarrer Bździoch, der oft für die
Vorführung von religiösen Filmen benutzt wurde sowie von solchen, die der Staatsmacht aus verschiedenen Gründen unbequem waren: dann konnten Massen von Sommerurlaubern im Bewußtsein konspirativer Tätigkeit in den Ferien in Podhale das Minikino besuchen und auf abgenutzten Videokassetten Jesus von Nazareth , Ben Hur , Doktor Schiwago , aber auch neue Abenteuer von James Bond und zweitrangige Actionfilme anschauen, die lediglich aus dem Grund ausgewählt wurden, weil als negative Hauptfigur ein Russe auftrat, der im Finale von einem guten Amerikaner besiegt, häufig brutal, blutig und tödlich besiegt wurde, der Religionssaal reagierte dann besonders lebhaft, der Tod eines niederträchtigen Iwans erregte ungezügelte Euphorie bei den Zuschauern, die einen Moment später beim Abspann ein gemeinsames Gebet sprachen, ein von Pfarrer Bździoch, dem notorischen Russenhasser, entsprechend modifiziertes, improvisiertes Gebet: »Bewahre uns, Herr, vor der russischen Pest, vor Hunger, die rote Seuche verbrenne mit Feuer, laß uns den Krieg gegen die Sowjets gewinnen, diesen stillen Krieg, den unser gequältes Volk in den Seelen und Herzen führt, schenke uns in deiner Barmherzigkeit die Freiheit, nach der wir lechzen.« Für das Match gegen den Iwan richtete Bździoch den Saal entsprechend her, stellte eine zusätzliche Haushaltshilfe ein, um gründlich aufzuräumen und den Raum mit einer persönlich von ihm entworfenen Szenographie auszustatten; an die Wände kam eine hysterische Ausstellung, die die Kampfstimmung anheizen sollte, hier Katyń, dort das Wunder an der Weichsel, dort der siebzehnte September, hier und da alte Zeiten, Polen von Meer zu Meer, der Angriff auf Moskau; für am Spiel nicht interessierte Kinder und Jugendliche hatte er eigens ein Gä
stezimmer eingerichtet, wo Ältere mit Pfeilen auf eine Scheibe werfen konnten, an der Bildnisse der Revolutionsführer klebten, ausgeschnitten aus den Titelseiten der Prawda oder Iswestija , die Jüngeren dagegen durften billig eingekaufte Porträts mit Plakatfarbe entweihen; die Atmosphäre begünstigte einen Sieg, um so mehr, als den Polen zur Erniedrigung der Iwans ein Unentschieden in diesem Spiel reichte. Der Saal platzte aus allen Nähten, obwohl der Pfarrer, unterstützt vom Vikar, die Identität der heranströmenden Zuschauer sorgfältig prüfte, damit es da drinnen, wie mein Vater mir erklärte, nicht nach dem UB , dem Sicherheitsdienst stinken konnte; aufgrund all dessen bekam ich endlich die Aura des Untergrundstaates zu spüren; all die Parolen, rot auf weiß in der Solidarniza geschrieben, der gekreuzigte Jesus, gleichermaßen mit Weihgaben und Abzeichen des kämpfenden Polens behängt, Devotionalien, gemischt mit patriotischen Gadgets, verführten durch ihre Häßlichkeit, ihre Macht war groß und wirkte unmittelbar, auf der einen Seite das »Erhebet die Herzen!« auf der anderen »Weg mit den Roten!«, Gebet und Hymne in Habachtstellung.
    Ich spürte, daß die plötzliche Verbindung religiöser, staatsbürgerlicher und fußballerischer Emotionen mich zu einem bigotten Weinkrampf bewegen könnte, daß ich ab jetzt an Treffen der OASE -Bewegung teilnehmen würde, daß ich einen Kampftrupp der Legion Maria gründen und vielleicht auch in ein

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