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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wir nach Schlesien zurückfahren, und mit der Sauferei sei Schluß. Die Zischlaute zog er etwas in die Länge, er sprach mit sichtlicher Mühe, aber die Fähigkeit, Reden zu schwingen, kam ihm nicht abhanden:
    »Frau, du kennst mich doch, du weißt also, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab, gibt's kein Erbarmen; alles, was ich im Leben erreicht hab, verdanke ich meiner Radikalität und meiner Kompromißlosigkeit, wenn ich also sage, daß ich beschlossen habe, einen Monat lang mit unseren Gastgebern hier radikal und kompromißlos zu trinken, dann nur deswegen, damit ich endgültig und definitiv so einen Ekel vor Alkohol kriege, daß ich zu Hause sofort nach der Rückkehr völlig abstinent werde.«
    »Mann, du wirst gar nicht nach Hause kommen, weil die dich hier ins Grab saufen, übrigens muß man gar nicht die Schuld auf die Bergbauern schieben, du hast einfach einen Hang, du neigst schon immer dazu, das mußte so enden, offensichtlich ist das auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich sag dir nur eins: wenn du durch ein Wunder bis zum elften durchhältst und uns nach Hause fährst, dann vergiß den
Wodka, vergiß für den Rest des Lebens das Bier, und vergiß, verdammt noch mal, sogar die Schnapsbohnen!«
    »Hör auf zu fluchen, hör bloß auf, so zu schimpfen!«
    »Mutter Gottes, ich fluche doch nie, da siehst du, in was für einen Zustand du mich gebracht hast …«
    Doch Vater hatte diesen unüberwindlichen Macho-Ehrgeiz, diesen Instinkt, ebenbürtig sein zu wollen, ja, am besten besser als die anderen, und so hielt er, obwohl er nicht verstand, wie die Góralen solche Mengen an Wodka trinken und halbwegs normal funktionieren konnten, Schritt mit ihnen und wurde dabei viel leichter und früher betrunken als sie, was ihm keineswegs mehr Wertschätzung einbrachte. Das Schicksal meinte es nicht mehr gut; und in Spanien erwiesen sich unsere Jungs ohne Boniek als hilflos wie Kinder im Nebel, sie verloren das Halbfinale gegen Italien, und schon war die ganze Nation eingeschnappt, was soll das, wozu sind wir so weit gekommen, wozu haben wir uns alle so aufgeregt, wer ist dafür verantwortlich, warum hat Piechniczek nicht Szarmach aufgestellt, plötzlich sollte das Märchen, in das wir alle vernarrt waren, das uns das tägliche Elend und die Niedergeschlagenheit vergessen ließ, ein fatales Ende nehmen, Melancholie, Depression und Zweifel überkamen das ganze Land: Wir werden nun doch nicht Weltmeister, wie schade, wir waren so nah dran, wenn wir Weltmeister geworden wären, hätten die Roten das Handtuch geschmissen, so beeindruckt wären sie gewesen, daß dieses ausgehungerte und gebeutelte Land zu so einem Triumph fähig ist, wenn wir die WM gewonnen hätten, hätten die Generäle die Rationierung der Waren zurücknehmen müssen, die Sperrstunde aufheben müssen, den Kriegszustand aufheben müssen, die eigene Regierung aufheben
müssen, den Sozialismus aufheben müssen, den eisernen Vorhang öffnen, in das Land der Weltmeister wären Touristen aus dem Ausland gekommen, das Volk, das Weltmeister ist im Beten und im Fußball, wäre von anderen Völkern bewundert worden, wahrlich, ich sage euch, wenn wir im Juli 1982 ins Finale der WM gekommen wären und gegen die Deutschen gewonnen hätten, wäre die Welt in ihren Grundfesten erschüttert worden, alle Gastarbeiter wären in die schlesischen Bergwerke zurückgekehrt, alle Góralen aus Chicago hätten den Atlantik überquert, um rechtzeitig zur Ernte zu kommen, die sehnsüchtigen Bergbauernfamilien hätten an den Häusern Transparente aufgehängt mit der Aufschrift »Welcome daheim«, die ganze Emigration wäre in Polen zusammengekommen, um aufzuräumen nach der Herrschaft der Roten, im Land der Weltmeister wäre niemand niemandem mehr ein Wolf gewesen, denn niemand hätte gewußt, was ein Ressentiment ist, niemand hätte Komplexe gehabt, die kleinen Dicken wären Basketballspieler geworden, die notorischen Onanisten wären Playboys geworden, die verfemten Dichter hätten sich in neuen Poemen mit der Welt versöhnt, die Kritiker hätten jeden Film und jedes Buch gelobt, die Gerichtsvollzieher hätten Geld von den Reichen geholt und es den Armen gegeben, die Schaffner hätten den Schwarzfahrern gratis Fahrkarten ausgestellt, man hätte die Tage nationaler Liebe ausgerufen, ach, wie wunderbar wäre das gewesen, hätte nicht Paolo Rossi die zwei Tore geschossen, zwei Stiche direkt in unser Herz, zwei Gesichter der Trauer, zwei : null, und übermorgen fahren wir heim; blieb

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