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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Priesterseminar eintreten würde, um nach der Weihe ein gefährlicher und gnadenloser Pfarrer zu sein, daß ich wie der ehrwürdige Bździoch von der Kanzel aus Rote und Opportunisten, Verräter und Spitzel schelten würde; wie lustvoll erschien mir die Klarheit der Teilung in Gut und Böse … Anstatt mich auf das Spiel zu konzen
trieren, in dem die Polen vom ersten Moment an beschlossen, auf Zeit zu spielen, womit sie die hilflosen Kicker der sowjetischen Mannschaft wie auch die nach Blut, Schweiß und Tränen gierenden Zuschauer zur Weißglut brachten, erlebte ich eine Erleuchtung, driftete ab in die Welt der kämpfenden Kirche; das Gotteshaus verströmte trotz des Gedränges im Saal Kühle und Weihrauch, betäubt begann ich mir vorzustellen, was für ein Pfarrer ich in Zukunft sein würde.
    Ich wußte, daß die katholischen Pfarrer in »Überspannte« und »Donnerer« geteilt waren; erstere mochte ich nicht, sie kamen mir lächerlich vor mit ihren verweichlichten Stimmen und dieser speziellen Art von kirchlichem Geflüster, mit dem sie die Lehre Jesu verkündeten, es klang, als hätten sie den Mund mit etwas Widerlichem voll; wenn man sie in Zivil traf, war es schwer, sie nicht für Schwule zu halten, vielleicht trugen sie deshalb das Kollar – um den Respekt zu wahren, einem Pfarrer bringt schließlich jeder Bergbauer Achtung entgegen, für Homosexualität dagegen gab es damals in Podhale keine besondere Toleranz. Ich stellte mir mich als Donnerer vor, nicht flüsternd, sondern schreiend, mit Dogmen geißelnd, zur Rache aufrufend, zum Aufstand gegen diejenigen, die Christus immer wieder von neuem kreuzigen wollen; ich stellte mir meine heilige Macht vor, die Herrschaft über die Seelen, die grausame Macht, die Absolution nicht zu erteilen, und plötzlich spürte ich, daß das sehr schön war, so angenehm im Bauch, als würde sich gleich etwas Süßes und Heißes in mich ergießen, mein Blick blieb wie benommen an dem Bildnis der Madonna mit Kind hängen, und als ich, schon in Fieberwahn fallend, ihre nackte, stillende Brust sah, wurde ich zum ersten Mal im Le
ben ohnmächtig; genau zu der Zeit, als Smolarek in Barcelona mit dem Ball in der Ecke des Spielfelds tanzte, so schlau gedeckt, daß die wütenden Sowjets ihn ihm nur mit einem Foul hätten abnehmen können.
    Daß wir triumphal unentschieden spielten, einen siegreichen Kompromiß erzielten, die Freude über den Eintritt in die Medaillenrunde nur durch das fehlende i-Tüpfelchen trübten, erfuhr ich erst in der Hütte, von Mutter, die mich mit Aspirin vollstopfte, mir Tee mit Zitrone ans Bett stellte und sich endlich nützlich fühlte; da ich krank war, konnte sie mich nach allen Regeln der Kunst bemuttern. Mein Vater war dreifach untröstlich: einmal, weil er mit mir, dem Geschwächten, vor dem Ende des Spiels den Saal verlassen mußte, dann war er verzweifelt, weil wir die Sowjets nicht richtig fertiggemacht hatten, und schließlich, weil Boniek nicht im Halbfinale gegen die Italiener würde spielen können, da er die zweite Karte eingefahren hatte, ein Jammer, denn die erste war so blöd, für nichts, er ließ sich als erstbester erwischen, als sie bewußt langsam die Mauer aufstellten. Sie flogen zwar raus, aber auch so vergifteten die Sowjets uns das Blut, unser Sieg war beschädigt, dafür war schon klar, selbst wenn wir alles verspielen sollten, was vor uns liegt, wir würden bis zum bitteren Ende spielen, und daher würden sich meine Ferien bis zum Ende der ersten Julidekade verlängern.
    Vater hatte Angst, man weiß nicht, ob mehr um seine Bauchspeicheldrüse oder um die Leber, er überlegte, was schrecklicher wäre – an Bauchfellentzündung zu sterben oder an Leberzirrhose; Mutter behauptete, er müsse starken Willen beweisen, lernen, nein zu sagen, aufhören, sich anzuschließen, mitzumachen, sich abhängig zu machen; die
ser Monat in den Bergen habe aus ihm einen perfekten Alkoholiker gemacht, sagte sie, bald werde er aussehen wie die verschissenen und verkotzten spindeldürren Gestalten vor der Kneipe, er werde in die Ausnüchterungszelle kommen – was für ein Beispiel gibt er bloß dem Kind, die Stimme ist schon ganz heiser, das Gehirn im Eimer, das Gerät schlapp, ja, sie fuhr trotz meiner Anwesenheit die schwersten Geschütze auf, aber Vater gab sich unablässig dem Rausch hin, sorgte morgens dafür, daß der Spiegel nicht sank, sagte mit einer furchtbaren Säuferruhe, er habe alles unter Kontrolle, wenn Polen die WM gewinne, würden

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