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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Lyrik, die aus der erschreckenden Erkenntnis hervorsprudelte, unfähig zu sein, das eigene Kind zu beschützen. Mit einem Holzstückchen soll er die Verse in den Schnee gekritzelt haben – um sich dann in Selbstbeherrschung zu üben, indem er sie wieder verwischte. So ist wohl seine von keinem je gelesene Gedichtsammlung Armselige Schneeflocken entstanden.
    Ich sehe mich um. Ja, wir haben hier gerne gegessen. Solange unsere Familie noch zusammen war. Zuerst waren meine kleinen Schwestern abgefallen. Iveta und Klára konnten in der Hauptschule dem Werben des SB , des Staatssicherheitsdienstes, nicht widerstehen, und fingen an, mit Ausländern ins Bett zu gehen. Angeblich sollten sie die strategischen Pläne der NATO , das Waffenpotential und den Stand der westlichen Wirtschaft auskundschaften. Ich glaube, in Wirklichkeit haben die kleinen Luder bloß die an Körperhygiene gewohnten westlichen oder arabischen Männer mit ihren Cremes und Shampoos genossen, die Schule geschwänzt … und Lebensmittelpäckchen für zu Hause organisiert. Ich war damals in der Wachstumsphase, und was schmeckte, verschlang ich in rauhen Mengen. Dafür bin ich meinen Schwestern bis heute dankbar. Und bete für ihre Seelen. Klára wurde Offizier der Staatssicherheit. Sie zog in die Kaserne. Und Iveta hat in ein fernes fremdes Land geheiratet. Ich glaube, sie wollten vor allem nicht mehr mit Vater zusammenleben. Manchmal rüttelte er sie mitten in der Nacht wach, weinte und jammerte, daß ihm ein Vers fehlte … und wollte von ihnen wissen, wo er als Vater versagt hatte, daß aus seinen Töchtern widerliche Flittchen und Spitzel geworden sind … sie motzten immer zurück, und Papa rannte zum Schreibtisch, sein Gedicht fertigschreiben. Die Lover, Militärberater und Waffenmagnaten, glaubten es meinen Schwestern nie, daß sie die Augenringe und den vor lauter Schlafmangel taumelnden Gang ihrem Dichter-Vater zu verdanken hatten. Manchmal bekamen sie von den eifersüchtigen Herren sogar eine richtige Tracht Prügel verabreicht. Und wenn sie sich beschwerten, wurden sie auch von ihren Stasi-Freiern verdroschen. Was war ich
froh, kein Mädchen zu sein! Auch wenn meine Schwesterchen möglichst schnell das Haus verließen, haben sie dem Vater zum Thema Erbärmlichkeit eine ganze Menge Material hinterlassen. Unsere Klára wurde eines der ersten Opfer der Volksaufstände von 1989. Sie leitete den Polizeiangriff gegen die Studenten auf der Národní Straße. Die studentische Horde – alles angeblich Hörer der mathematisch-physikalischen Fakultät – hat sie aus dem Transporter gezerrt und an eine Straßenlaterne gehängt, unter der ein paar Streber noch ein kleines Feuerchen entfacht haben. Ivetas Schicksal war eigentlich nicht viel besser. Sie ist während der Bombardierung von Bagdad umgekommen. Damals war sie die elfte Frau des Kalifs Umar Barshagiza, in dessen Bett die Partei sie einst beordert hatte. Heute heißt in Bagdad ein Platz nach ihr. Direkt gegenüber dem königlichen Palast, ja, Iveta Square, das ist er.
    Unsere Mama, die seit Ewigkeiten fest entschlossen war, fast alles auf der Welt zu ertragen, weinte sich ordentlich aus – und stellte Vogelhäuschen für ihre Seelen vors Fenster. Eine alte tschechische Sitte, die weder die Christen noch die Kommunisten ausrotten konnten. Man braucht Speck, Brot und vor allem frisches Wasser dazu. Die Seelen der Verstorbenen kommen als Schatten kleiner Vögel zum Vogelhäuschen. Wenn du mit ihnen redest und die Vögel das Futter annehmen, merkst du, wie deine Trauer allmählich kleiner wird. Die Seelen können noch neun Monaten nach dem Tod erscheinen. Danach brauchen sie keine Hilfe mehr. Vater hat nie etwas in das Vogelhäuschen hineingelegt, kein einziges Krümelchen. Und auch wenn die beiden kleinen Schattenvögel, manchmal im eisigen Frost, vor dem Häuschen geduldig von einem Bein aufs andere traten und ihre
Köpfchen zu seinem Fenster drehten, hat er nie ein Wort zu ihnen gesagt. Er hatte keine Zeit, er schrieb. Damals ist das Drama Klebenbleiben entstanden, in dem er zum Ausdruck brachte, wie sehr er darunter litt, die väterliche Liebe zu seinen toten Töchtern nicht loswerden zu können, die ihm zu ihren Lebzeiten scheißegal waren. Dieser Tod putschte ihn so auf, daß er fließend zum Werk Verfall überging. Den Schmerz seiner durch die Kälte des Universums verletzten Seele projizierte er diesmal auf seine unmittelbare Umgebung, wobei eine gewisse Widerspiegelung der Realität nicht zu

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