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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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vermeiden war. Das wurde als Regimekritik verstanden. Das Prag des Spätsozialismus fiel auseinander. Das Gedicht besang die Todessehnsucht aller lebenden Organismen und verglich den Zerfall des Staates mit dem gewöhnlichen Schicksal eines überalterten Organismus. Vaters Worte rochen scharf nach Gullyausdünstungen, nach morschem Mauerputz und stehender Luft, deren Pestgestank kaum durch die leichte Bewegung der bolschewistischen Banner über den Polizeistationen und Folterkammern abgeschwächt wurde. Scharf riechendes Hirn , so hieß das Gedicht. Diesmal sah es nach echtem Durchbruch aus. Das durch den Knast kleiner gewordene Häufchen seiner Dissidentenfreunde ließ ihn endlich mal hochleben. Vater wurde sogar zum Verhör abgeholt. Aber er wurde wieder nicht verhaftet. Die Ermittlungsbeamten fanden seine Verse nicht gefährlich, sondern nur blöd. Das Regime war nämlich gerade dabei, seine Taktik zu ändern. Es sollten keine Märtyrer mehr entstehen, deren Verse die unterjochte Nation zum Widerstand aufrüttelten. Vater flog im hohen Bogen aus der Polizeistation raus, wurde öffentlich für irre erklärt und bekam als Irrer vom Regime eine (korrumpie
rende!) Rente zuerkannt. Mama und ich haben uns über die Moneten gefreut. Vater lief aber wie ein Körper ohne Seele herum. Das Maß seines Unglücks wurde noch voller, als – anders als bei vielen anderen Dissidenten – sein Werk im Westen weder übersetzt noch herausgegeben wurde. Es war zu depressiv. Die Kopfrente, Papas einziges Honorar, erschien uns daher wie ein Geschenk des Himmels. Aber Mama hat sich darüber nicht lange freuen können.
    Mit Vater hatte ich ständig Zoff, noch zu Mamas Lebzeiten. Obwohl er nicht in der Lage war, außer sich noch jemanden wahrzunehmen, was für Menschen mit einer depressiven Eisablagerung auf dem Hirn ganz normal ist, fiel es ihm doch auf, daß ich als Underground-Aktivist das Arbeiten links liegen ließ. Und die Rente verfutterte, die ihm für seinen Wahnsinn zugesprochen wurde. So hatte er sich das Leben mit dem letzten übriggebliebenen Kind nicht vorgestellt. Er ermahnte mich zum Fleiß. Warf mir häufig vor, daß ich mich nicht um eine eigene Rente kümmere. Er konnte es auch nicht ab, wenn meine Altersgenossen, auch sie Underground-Aktivisten, sich bei uns trafen. Bis tief in die Nacht diskutierten wir, wie das Regime zu stürzen ist – und Vater beschwerte sich, daß er nicht schreiben kann. Damals war er schon älter, über vierzig, und ich glaube, er hat uns junge Menschen nicht richtig auseinanderhalten können. »Ihr seid eine einzige Herde, mit euren langen Haaren und Flugblättern …«, schimpfte der Individualist und Einsiedler über unsere Bewegung.
    Für die Wintermonate verdrückte sich Vater seelenruhig irgendwohin in die Berge, meistens ins Riesengebirge in irgendeine Ruine von den Deutschen. Manchmal nahm er uns mit. Die einsamen Berghütten überließen ihm seine er
folgreicheren Dissidentenkollegen, deren Bücher im Westen erschienen oder die heimlich Drehbücher für das sozialistische Fernsehen schrieben. Als Gegenleistung versprach Vater, ihnen das Haus zu renovieren, und das machte er dann den ganzen Winter. Auch um nicht zu erfrieren. Nicht mal einen Ofen gab es dort, wo wir waren. Und so konnte Vater nicht schreiben, er konnte seine Werke nur denken . Damals vertrat er die Meinung, es wäre am besten, wenn ihm Gedichte nur passierten. Daß er geschickt war, habe ich schon gesagt. Er verlegte Holzfußböden, reparierte morsche Balken, säuberte die Brunnen. Stellte Fallen auf, fing Hasen in Schlingen, paarmal hat er sogar mit einem Traktor ein Reh erlegt. Er brachte mir bei, wie man Tiere häutet, und wenn ich mich gut anstellte, durfte ich mir aus dem Fell etwas Mondänes nähen. Einen Badeanzug zum Beispiel. Die waren im Sozialismus kaum zu kriegen. Manchmal war Vater die Arbeit leid, packte seine Axt und Streichhölzer zusammen und zog in den Wald, um dort zu überwintern. Einmal hat er dabei mich und meine Mutter in so einer Bruchbude sitzen lassen. Schlecht ging es uns nicht, wir pickten uns aus den Balken Larven als Köder heraus, und bevor der Bach zugefroren war, feierten wir wahre Fischorgien. Es war furchtbar kalt, aber an die von Vater neu gezimmerten Balken oder Holzdielen trauten wir uns nicht heran. Wir warteten auf den Frühling und wechselten uns ab beim Fallenchecken. Einmal machte Mutter einen falschen Schritt, und das Fangeisen schnappte um ihr Fußgelenk. Sie war geübt

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