Das wilde Leben
Fingern, die von Asche zerfressen sind. Zittrige Gedanken. Löwenkopf mit langer grauer Mähne. Schon lange gehört er zu den letzten – auf der Kleinseite gibt es vielleicht noch ein paar Hundert von ihnen – alten Menschen, die unter der Prager Burg wohnen. Dieses Viertel ist längst nichts mehr für Alte.
Unter den Horden von Besuchern aus der ganzen Welt, die hier die Straßen verstopfen, schlurfen noch hier und da die letzten Ureinwohner der Kleinseite. Übelriechende Dissidenten der Huxleyschen Welt, peinliche Beweise von Krankheiten und Alterungsprozessen, Erinnerung an den Eisernen Vorhang. Sie werden von den Touristen ebenso eifrig geknipst, wie der Sensenmann auf der astronomischen Uhr am Altstädterring. Die Tučková, alt schon, als ich zur Welt kam, füttert jeden Tag die Möwen an der Moldau, mit einem roten Tuch um den Hals, als ob es ein Geschenk von Stalin persönlich wäre. Der fette Horyna, von den Kindern Kostej
der Unsterbliche genannt, drückt jeden Tag im Parterre in der Mostecká sein furchtbares Gesicht gegen die Fensterscheibe, rot wie eine zerkochte Sauerkirsche, und jagt damit den Touristen Schrecken ein. Seine Nachbarin, die alte Mocková, schüttet manchmal ihren Nachttopf über die Touristenköpfe aus. »Daß sie alt sind, das ist nicht schlimm«, die Stadträtin Košt'álová verteidigt ihre Idee, diese und ähnliche Störenfriede in irgendwelche Sanatorien zu entsorgen. »Aber sie sind so … anders!«, piepst sie in die Stille der Krisensitzung, selbst über ihre Unkorrektheit entsetzt. Wie mein Vater haben alle diese Alten ihre Kindheit in einem Weltkrieg verbracht. Die meisten – nur mein Vater nicht! – haben hart gearbeitet. Viele von ihnen glauben bis heute, daß man Kleider flicken und Socken stopfen kann, daß alles, was auf den Teller kommt, aufgegessen werden soll und daß Altpapier in die Sammelstelle gehört. Das macht sie nicht nur für Bestattungsunternehmen, sondern auch für Ethnographen interessant. Ja, der Kontakt zu unseren Ältesten erinnert stark an den Zusammenprall einer Expedition mit den wilden Stämmen am Amazonas. Bald wird es die einen und die anderen nicht mehr geben. Deswegen arbeite ich zusammen mit der Stadträtin Košt'álová an einem Plan, wie man ein paar ausgesuchte Exemplare der alten Generation in die Ewigkeit verschieben könnte. Wir wollen die letzten von ihnen als mechanische Puppen nachbauen lassen. Keine gespenstischen, möglichst realistischen Roboter: eine Erinnerung an das 20. Jahrhundert. Natürlich möchte ich, daß auch mein Vater durch eine solche Puppe ersetzt wird. Deine Erbärmlichkeit, lieber Papa, werde ich in die Ewigkeit retten, verzaubert in einen Roboter. Damit sich die Schulkinder beim Vorbeigehen über das »Wie es
damals gewesen ist« vor Grauen schütteln. Sie werden, lieber Papa, dermaßen erschüttert sein, daß sie, blind für die Kälte des eigenen Universums, nicht einmal auf die Idee kommen werden, über ihre eigene Erbärmlichkeit nachzudenken. Und diese Blindheit, die ist dann erst erbärmlich, oder? Ja, das müßte dir gefallen, Vater.
Das Krankenhaus unter der Burg. In der Altenstation röcheln ein paar an Röhren angeschlossene Ruinen. Vater ist in sich zusammengefallen, geschrumpft. Wo sind seine Hände? Aha, angegurtet. Er ist nur noch ein großer Kopf auf einem Kopfkissen. Ein Kopf mit einer Mähne dreckiger, grauer Haare. Er schlägt die Augen auf. Und zieht eine Grimasse. Aha. Falls er gedacht hat, alles ist schon zu Ende, und auf einmal sieht er mich, muß ihn das sauer gemacht haben. Mit einem Zollstock aus Holz messe ich den Umfang seines Kopfs. Seine Schläfen. Und erzähle ihm flüsternd von der Puppe. All das Gespenstische, das von ihm übrigbleibt, wird von ihr in die Ewigkeit befördert. Erbärmlichkeit for ever. Er lächelt. Ja, das hab ich mir immer gewünscht, daß mich mein Papa auf dem Sterbebett anlächelt. Lieber messe ich seinen Kopf noch einmal. Der Zollstock rutscht nämlich an den Haaren ab. Ich will es genau haben.
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Swetlana Wassilenko
Die Stadt hinter Stacheldraht
I m Militärtransporter fahren wir mit dem Aufnahmeteam in meine Heimatstadt, um einen Dokumentarfilm über meine Kindheit zu drehen. Zur Rechten die wermutbedeckte Steppe, grau wie eine Felduniform, die sich bis zum Horizont erstreckt, links die Flußauen der Achtuba. Die Achtuba ist ein Arm der wasserreichen und herrschaftlichen Königin aller russischen Flüsse – der
Weitere Kostenlose Bücher