Das wilde Leben
Wolga. Die Achtuba ist wie eine Verwandte der Wolga, ihre Schwester oder Tochter, doch von ganz anderem Charakter, sie ist zielstrebig, eigenwillig, ungestüm, eher wie ein Gebirgsfluß als wie ein Strom in der Steppe. Wahrscheinlich war es auch ihr mutwilliges Wesen, das sie dazu veranlaßt hat, aus dem Königshaus fortzulaufen und ihr wildes, ungezügeltes Leben zu leben, aber immer neben Mütterchen Wolga, parallel zu ihr, und wie diese mündet auch sie ins Kaspische Meer.
»Achtube …« Der Regisseur spricht den Namen aus, als koste er seinen Geschmack, dann fragte er mich: »Woher dieser merkwürdige Name? Klingt gar nicht russisch.«
»Er ist auch nicht russisch«, erkläre ich. Und erzähle, daß vor vielen Jahren die wilden Mongolenhorden unter der Anführerschaft von Batu-Khan, dem Enkel des Dschingis-Khan, an dieser Stelle haltmachten. Sie hatten bereits ganz
Asien unterworfen. Der wilde, tückische Fluß, der dem ungezügelten Wesen und Verhalten seines Volkes so ähnlich war, rührte das Herz des Batu-Khan, und ein für allemal bezaubert von der Schönheit des Flusses und der Schönheit dieses Ortes, gründete er hier, am Ufer der Achtuba, den westlichen Ulus, d.h. den westlichen Teilbereich des mongolischen Reiches, die sogenannte Goldene Horde, und hier errichtete er Saraj, ihre Hauptstadt. Von hier aus unternahmen die Mongolen ihre blutigen Feldzüge ins russische Reich, legten die russischen Städte und Dörfer in Schutt und Asche. Von hier aus knechteten sie die Rus, das russische Reich, das sie damit für Jahrhunderte als Staat aus jedem historischen Zusammenhang herausrissen. Hierhin, in die Goldene Horde, flossen die Abgaben der russischen Fürstentümer, hierher, nach Saraj, kamen die russischen Fürsten zum Khan, um von ihm mit dem Fürstentum belehnt zu werden.
Natürlich war das ein bißchen übertrieben. Der Khan Batyj erbaute die Hauptstadt der Goldenen Horde wesentlich weiter südlich, in den Wolganiederungen, und erst viele Jahre später verlegte ein anderer Khan sie hierher. Aber um eine Geschichte schlüssiger zu machen, ist ein bißchen Übertreibung erlaubt.
»Einmal verliebte sich ein russischer Fürst in Tuba, die Tochter des Khans. Sie erwiderte seine Liebe. Bei seiner Abreise versprach er ihr, nach einem Jahr wiederzukommen und sie zu heiraten.« Es ist eine Legende der hiesigen Gegend, die ich jetzt dem Aufnahmeteam erzähle. »Als ihr Vater davon erfuhr, wurde er böse und beschloß, seine Tochter unverzüglich zu vermählen, und zwar mit einem alten und häßlichen …«
»Knacker«, prustet Ira, die Kamerafrau. (Übrigens eine der besten in Rußland.)
»… Khan von der Krim«, fahre ich fort.
»Und sie selbst? Diese Tuba?« fragt der Fahrer. Er ist ein junger rotwangiger Soldat. »Hat sie den Alten geheiratet?«
»Halt mal hier, an diesem Stein«, bitte ich ihn. Das Auto hält neben einem grauen, klobigen Betondenkmal, das aussieht, als sei es von einem unfähigen Stümper angefertigt worden. Wir steigen aus. An der Betonfläche Abdrücke von Buchstaben. Offensichtlich haben Säufer aus der Gegend die Buchstaben abmontiert und sie für eine Flasche Wodka beim Altwarenhändler als Buntmetall verkauft. Der Regisseur versucht, die Aufschrift zu lesen. Erfolglos. Er sieht mich fragend an.
»Was steht da?«
»Daß hier die Hauptstadt der Goldenen Horde war – Saraj.«
»Hier?!« Der Regisseur sieht sich verblüfft um. Statt einer riesigen, blühenden, kilometerweit sich erstreckenden Stadt mit Bauwerken aus Stein, mit Häusern, Höfen, Brunnen, mit überfüllten Basaren, mit Massen von Menschen aus den verschiedensten Ländern, mit Pferden, Schafen und Kamelen, wie Reisende die Hauptstadt der Goldenen Horde beschrieben, sieht man ringsum nur kahle, graue Steppe und ein schäbiges Denkmal für eine vergangene Macht, die wüste Horde, die die halbe Welt unterjochte, einen Betonklotz, der, wie ich auf den ersten Blick sah, einer skythischen Steinfrau glich, nur daß ihm der Kopf fehlte.
Auf dem Rückweg zum Auto erzähle ich dem Regisseur, wie wir als Kinder hierher kamen und mit Schaufeln in der Steppenerde wühlten. Wir suchten nach dem goldenen Pferd.
»Was für ein Pferd denn?« fragt der Regisseur gereizt. Zwischen ihm und mir bahnt sich ein Konflikt an, dessen Grund uns beiden nicht ganz klar ist.
»Das goldene, sage ich doch«, erkläre ich ungehalten. »Als der Khan Batyj im Sterben lag, befahl er, alles Gold zu schmelzen, das er besaß, und daraus die Statue
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