Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
ersten amerikanischen Raketen entworfen – nach demselben Vorbild. Wie in die Erde gesteckte Drachenzähne vermehrten sich die hitlerschen Raketen in verschiedenen Teilen der Welt. Das war der Anfang des jahrzehntelangen atomaren Wettrüstens der beiden Großmächte UdSSR und Amerika, damit begann der »kalte Krieg«.
     
    An der KPP -Stelle wurden unsere Dokumente geprüft, unsere befristeten Passierscheine, Genehmigungen und andere begleitende Papiere vom Verteidigungsministerium und dem Generalstab – doch wir durften nicht hinein. Da halfen keine Telefonate und keine drohenden Warnungen gegenüber den Posten, die uns die Erlaubnis verweigerten. Wir sagten, wir seien wichtige Gäste, wir würden erwartet, wir würden sie anzeigen, wenn sie uns nicht auf der Stelle passieren ließen. Mit undurchdringlichem Gesicht standen die Posten in Habtachtstellung. Das war merkwürdig. Die Vorschriften zur Geheimhaltung hatten sich während der Perestroika sehr gelockert. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde das Versuchsgelände nur noch eingeschränkt genutzt, Raketenstarts gab es so gut wie keine mehr. Die alten Raketen wurden verschrottet, für neue fehlte das Geld. Die Supermacht, die die halbe Welt in Schach gehalten hatte, kam zu einem Provinzland der Dritten Welt herunter. Viele Experten, Spitzenkräfte auf ihrem Gebiet, verließen die Stadt, in der es keine Perspektive mehr gab, oder sogar das Land, oder sie wechselten den Beruf. Wie ein Satellit des Versuchsgeländes begann die Stadt vor aller Augen zu schrumpfen und abzusterben. Längst waren
Menschen von auswärts zugezogen, die mit dem militärischen Versuchsgelände nichts mehr zu tun hatten.
    Doch in der Stadt zu wohnen war eine Sache; dort einen Film zu drehen war etwas ganz anderes. In unserem Fall wollte man sich offenbar rückversichern. Der gesamte Verteidigungsapparat der Stadt lief heiß. Für sie waren wir unbekannte Objekte, Außenseiter, die ihr, der Stadt, vielleicht feindlich gesonnen waren, Menschen, deren Denkweise unverständlich war. Und sie, die Stadt, stellte ihre Stacheln auf wie ein Igel. Sie wollte sich nicht ausliefern. Sie wollte sich nicht bloßstellen. Sie wollte uns nicht hereinlassen. Der Regisseur war verzweifelt.
    Da handelte ich kurzentschlossen. Ich drehte mich um, und vor den Augen der Wachposten, die jede unserer Bewegungen argwöhnisch verfolgten, schlug ich mich in die Johannisbeerbüsche – offenbar einfach nur so, vielleicht auch auf der Suche nach einer Stelle, wo man pinkeln konnte. Die Wachtposten – allesamt junge Soldaten – schauten schamhaft in eine andere Richtung. Leichten Schritts verließ ich die überwachte Zone und stieß auf einen kaum erkennbaren, aber mir bekannten Pfad; er führte zu einem mannshohen Loch in der Betonmauer, die die Stadt jetzt anstelle des Stacheldrahtzauns umgab. Durch dieses Loch kam man ohne Passierschein in die Stadt. So hieß es auch: »Gehen wir durchs Loch!« Wie oft war ich hier durchgeschlüpft. Das Loch war immer noch an derselben Stelle wie früher im Stacheldraht. Und ich war hier zu Hause, ich war von hier. Drüben finde ich mich auf der Straße der Sowjetarmee wieder, wo zwischen anderen einstöckigen, gleichförmigen Holzhäusern auch unser Haus steht, umgeben von einem Garten. In so einem Haus wohn
te vor seinem Flug ins Weltall auch Juri Gagarin. Mama erwartet mich, ich habe aus Moskau angerufen und gesagt, daß ich komme. Doch vorher gehe ich zum militärischen Hauptquartier. Wir müssen das Aufnahmeteam reinholen.
     
    Im Hauptquartier stellt man uns dem General vor.
    »Ich nehme an, Sie werden einen Film drehen, der unserer außerordentlichen Stadt und unserer bemerkenswerten Landsmännin gerecht wird«, sagt er mit weicher, aber eindringlicher Stimme zu unserem Regisseur.
    Dann bringt man uns zum Oberst, in dem ich sofort Jura Danilow erkenne, mit dem ich als Kind die vereisten Schneehügel hinuntergerodelt bin. Wir erklären ihm, daß wir unbedingt Kinder für die Aufnahmen brauchen. Einen Jungen und zwei Mädchen. Eines der Mädchen soll so ähnlich aussehen wie ich als Kind. Die anderen Kinder sollen meine Freunde sein. Es soll eine Art dokumentarischer Spielfilm werden. Thema: die Kubakrise 1962. Drehen werden wir in der Stadt und außerhalb. Man erklärt uns, welche Objekte wir aufnehmen dürfen, bei welchen es unerwünscht oder nur mit Sondergenehmigung möglich ist. Das Filmen von geheimgehaltenen Objekten oder Regierungsstellen muß extra besprochen

Weitere Kostenlose Bücher