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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seines Lieblingspferdes zu gießen. Dieses goldene Pferd vergrub er in der Steppe, aber niemand weiß, wo. Viele haben den Klang seiner goldenen Hufe gehört. Das ist die Legende.«
    »Legenden über Legenden«, sagte der Regisseur düster, aber auch bissig. »Nichts ist geblieben. Nur Legenden.«
    »Für uns, die wir hier leben, sind es nicht nur Legenden«, sage ich leise.
    »Was denn sonst?«
    »Wie soll ich das sagen … Für uns ist es Wirklichkeit. Wir werden damit geboren.«
    »Aber jetzt gräbt keiner mehr die Steppe auf, um nach dem goldenen Pferd zu suchen«, sagt der Regisseur. »An Märchen glaubt doch keiner mehr.«
    »Du hast selbst gesagt, daß Legenden alles sind, was vom Leben bleibt«, widerspreche ich.
    »Deine Legenden werden wir aber nicht filmen«, sagt der Regissseur ärgerlich. »Wir wollten einen Film über das Leben machen! Einen Dokumentarfilm. Vergiß das nicht!«
    Wir steigen wieder ein, böse aufeinander. Der rotwangige Soldat, der das Auto fährt, sieht mich mit seinen neugierigen Kinderaugen an.
    »Und wie ging es dann weiter? Mit Tuba, der Tochter des Khans?« fragt er ungeduldig. »Sie haben noch nicht zu Ende erzählt …«
    »Sie lief ihrem Bräutigam, dem Krimtataren, davon, mitten im Hochzeitsfest. Sie lief zum Fluß und ertränkte sich«, sage ich.
    »Ach!« ruft der Soldat überrascht aus.
    »Das schrie auch ihr Vater, der Khan, als er hörte, was geschehen war und am Fluß stand. ›Ach, Tuba! Ach Tuba! Was hast du getan!‹ Seit damals heißt der Fluß Achtuba«, sage ich.
    »Und weiter?« Der Soldat läßt nicht locker.
    »Und dann wurde sie eine Flußnixe.«
    »Mein Gott! Sie machen mich noch wahnsinnig!« sagt der Regisseur mit leidender Stimme, als hätte er Zahnschmerzen. »Fahren wir weiter!«
    Das Auto fährt an.
    Von Saraj bis zu meiner Heimatstadt sind es noch fünfzig Kilometer.
     
    Der Ort war jahrzehntelang von Stacheldraht umgeben. Hinein und heraus kam man nur mit einem speziellen Passierschein, den die KPP ausstellten, die Kontrolno-propusknye punkty , Passierstellen, an denen man kontrolliert wurde. Über die Militärstadt zu schreiben oder zu sprechen war verboten, keine Karte verzeichnete sie. Bis heute gibt es keine Stadtpläne. Der Name der Stadt war ebenfalls militärisches Geheimnis. Wenn man eine Fahrkarte am Schalter kaufte, durfte man nicht sagen: »Einen Fahrschein nach Soundso, bitte.« Feind hört mit. (Plakate, auf denen der lauschende Feind abgebildet war, fanden sich allerorts in der Stadt.) Man mußte sagen: »Einen Fahrschein in den 85. Bezirk, bitte.« Es gab etliche Bezeichnungen für die Stadt. Sie hatte mehrere Namen gleichzeitig, wahrscheinlich zur Tar
nung, um Spuren zu verwischen, um den Feind und Spion zu verwirren. Sie hieß Ort Nummer zehn oder einfach Zehnte, 85. Bezirk, wie schon erwähnt, Gorodok (Städtchen) und sogar Moskau 400. (Sogar jetzt, beim Aufzählen dieser Namen, denke ich mit kindlichem Aberglauben: Gebe ich auch kein militärisches Geheimnis preis?) Sie liegt 140 Kilometer östlich von Wolgograd, dem früheren Stalingrad. Der offizielle Name der Stadt war Znamensk – so heißt sie auch heute wieder. Doch die Bewohner selbst nannten ihre Stadt nach dem nächstgelegenen alten astrachanischen Dorf – Kapustin Jar. Oder abgekürzt Kap Jar.
    Der Zufall wollte es, daß ich ausgerechnet dort Mitte der fünfziger Jahre zur Welt kam.
    Vor langer Zeit war hier das Kaspische Meer gewesen. Das Meer wich zurück, eine Senke entstand, die 200 Meter unter dem Meeresspiegel lag, und dort, auf dem Grund des abgeflossenen Meeres, lebten wir, wie in einer Schüssel, unter der Kuppel eines wolkenlosen Himmels, der wie ein Deckel über der Senke lag. Nachts hingen riesige helle Sterne am Himmel wie an einem Weihnachtsbaum. Aus diesem Grund, weil der Himmel fast das ganze Jahr über klar und wolkenlos ist, beschloß man, dort ein Versuchsgelände für Atomraketen anzulegen.
    Kapustin Jar war die Stadt, wo die Militärangehörigen, die auf dem Gelände arbeiteten, mit ihren Familien lebten – dreißigtausend Einwohner. Sie wurde 1946 errichtet, gleich nach dem Krieg, als die V-1 und V-2 Raketen, an denen die Wissenschaftler des Dritten Reichs fleißig gearbeitet hatten und die Hitler, zum Glück für die Menschheit, nicht mehr zum Einsatz bringen konnte, aus Deutschland hierher geschafft worden waren. Diese Raketen dienten den sowjeti
schen Wissenschaftlern als Modell. Zur gleichen Zeit wurden auf der anderen Seite des Erdballs die

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