Das wilde Leben
werden, das Hauptquartier, zum Beispiel, wo wir sitzen, ist absolut verboten. »Dürfen wir einen Raketenstart filmen?« fragt der Regisseur.
»Haben Sie eine Genehmigung?« fragt ihn der Oberst.
»Nein.«
»Dann geht es nicht.«
Ich sehe den Regisseur empört an. Daß man bei uns Raketen nicht »live« aufnehmen kann, ist ein schwerer Schlag.
Er war es, der im Verteidigungsministerium nicht um »Zulassung« (Geheimhaltung) nachsuchen wollte, um nicht auf mehrere Jahre Ausreiseverbot zu kriegen. Der Trottel will ins Ausland, nach Cannes, aufs Filmfestival!
»Aber wir haben ein Filmarchiv. Dort gibt es Aufnahmen von Raketenstarts«, tröstet ihn der Oberst.
Für die Zeit der Dreharbeiten stellen sie uns kostenlos einen Militärbus zur Verfügung, und wir werden mit einem Major bekannt gemacht, der uns bei den Aufnahmen begleiten soll. Er wird uns bei der Organisation helfen und uns gleichzeitig nicht aus den Augen lassen. Er hat ein schönes, graues, undurchdringliches Gesicht.
Die Kinder für den Film würden wir selbst finden, sagten wir beim Abschied.
»Na, wie geht's?« fragt mich Oberst Jura freundschaftlich nach dem offiziellen Teil.
»Ganz gut. Ich mache Filme, wie du siehst. Und schreibe Romane …«
»Die hab ich gelesen«, sagt Jura. »Du schreibst sehr lebensnah.«
»Und was machst du so?« frage ich zurück.
»Nichts Besonderes«, sagt Jura. »Ich hab mich bis zum Oberst hochgedient. In einem halben Jahr gehe ich in Pension.«
Plötzlich zwinkert er mir mit seinen langen Pferdeaugen zu und lächelt verschwörerisch. Ich lächle auch. So habe ich ihn in Erinnerung, mit diesen länglichen Pferdeaugen, damals, als wir zusammen den hartgefrorenen Hügel hinunterrodelten und er mich umarmte und auf den Mund küßte. Wenn wir unten ankamen, standen wir auf, und ohne einander anzusehen, stapften wir wieder hinauf, schwan
kend wie Betrunkene, und oben ging es wieder von vorne los.
Wir beide sind die einzigen, die davon wissen.
»Lescha, schau, das ist ein M, und das ist ein A. Schreib mal: › MA - MA …‹« Leschas Stiefschwester Inna bringt ihm das Schreiben bei. Lescha sieht aus wie dreizehn, obwohl er schon fünfzehn ist. Seine Haare sind kurzgeschoren, er trägt ein schmutziges Hemd, er bohrt in der Nase und kaut an den Nägeln – und er begreift nicht, was Inna von ihm will. Seine himmelblauen Augen in dem schmalen, vergeistigten Gesicht, das schon von leichtem Flaum bedeckt ist, suchen nach Ablenkung. Und sie finden etwas. Er steckt die Hand in den Käfig mit einer Ratte, der neben ihm auf dem Tisch steht, und lacht laut.
»Du sollst schreiben, Blödmann!« schimpft die schöne Katja, ein feines Mädchen aus dem Nachbarhaus.
»Sejber böd«, sagt Lescha beleidigt. Er kann kein »l« sprechen, und es gibt noch etliche andere Laute, die er auch nicht aussprechen kann. Er kann weder lesen noch schreiben. Seine Mutter ist vor mehreren Jahren gestorben, und er lebt mit seinem Vater, einem Alkoholker, in einem ärmlichen Zimmer. Lescha ist geistig zurückgeblieben – ein »Närrchen«, wie der Volksmund solche Kinder liebevoll nennt.
Lescha, Katja und Inna haben wir für die Filmaufnahmen ausgesucht. Sie wohnen in derselben Straße wie meine Mutter. Inna, die auf schwer faßbare Weise mir als Kind gleicht, hat die Hauptrolle bekommen.
»Eine tolle Szene«, sage ich zum Regisseur. »Jetzt brauchst du bloß aufzunehmen.«
Der Regisseur wirft mir einen vielsagenden Blick zu und deutet auf den Major, der mit gelangweiltem Gesicht am Fenster sitzt und auf die Straße schaut. Als hätte er nichts mit uns zu tun.
»Komm mal kurz mit hinaus«, sagt der Regissseur.
»Siehst du nicht, daß unser Film für die Katz ist?« fragt er mich, als wir draußen allein sind.
»Warum?«
»Dieser Major weiß sofort über alles Bescheid, sobald wir nur die Kamera einschalten und mit der Aufnahme anfangen.«
»Bist du sicher?«
Der Regisseur nickt heftig. Wir sehen einander schweigend an.
Es war nie unser Plan gewesen, einen Film über die Kindheit einer Schriftstellerin zu drehen, die die Stadt mir ihren Büchern berühmt gemacht hat. Diese Geschichte war nur ein Vorwand, um eine Erlaubnis zu bekommen, in der abgeschlossenen Militärstadt zu filmen.
Wir träumten davon, einen Film über diesen Jungen zu machen, der in der Nase bohrt, an den Nägeln kaut, sich keine Buchstaben merken kann, der schlecht spricht, der geistig behindert ist, ein Narr, ein Idiot, um ihn sollte es gehen, um einen
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