Das wilde Leben
brachten wir unsere Sträuße, und es sah aus, als stünde Lenin bis zu den Knien in Blut. (Vor kurzem rief mich Natascha nach Jahren des Schweigens unerwartet zu meinem Geburtstag an und sagte: »Weißt du noch, deine und meine Tulpen?« Und wir schwelgten in der Erinnerung an jenen Ausflug. Eine Freundin hatte unser Gespräch eifersüchtig belauscht, und als ich den Hörer auflegte, rief sie: »In unserer Freundschaft hat es auch viel Schönes gegeben! Bildlich gesprochen hatten wir auch unsere roten Tulpen!« »Ja, wir haben auch viel Schönes erlebt«, sagte ich. »Aber die Tulpen, die hab ich nur mit Natascha gehabt.«)
Die Steppe wimmelte von Kindern, aus allen Schulen und Kindergärten waren sie hergebracht worden. In der Dunkelheit hörte man Lachen, Schreien, Gespräche. Feuer durften wir nicht machen, die Amerikaner hätten es von ihren Satelliten aus gesehen. Ich breitete meinen Mantel auf dem Boden aus. Natascha und ich lagen nebeneinander, wir hielten uns fest umschlungen und hatten uns mit ihrem Mantel zugedeckt. Wenn wir in der Nacht getötet werden sollten, dann zusammen. Für alle Fälle sagten wir einander Lebewohl. Lange konnten wir nicht einschlafen. Mich quälte die Frage, wo Nadjka war, das Mädchen, das im Haus neben uns wohnte, ein Kind mit Down-Syndrom, alle lachten über
sie und nannten sie Närrin. Ich mochte sie sehr gern. Bei der Evakuierung hatte man sie nicht in den Autobus einsteigen lassen: Nadjka stand nicht auf der Liste. Und ich hatte verschwiegen, daß ich sie kannte. Es ließ mir keine Ruhe, daß wir sie zurückgelassen hatten. »Ach, sie ist doch nur eine Blöde«, sagte Natascha vernünftig. »Wenn sie stirbt, ist das nicht so schlimm.« Ich rückte von Natascha ab. Irgendwann schliefen wir ein. Nachts wachte ich auf und durchlebte den »Arzamas'schen Schrecken« – jene Todesangst, die Tolstoi als Erwachsener erfuhr. Ich weiß noch, daß ich in erwachsenen Worten an den Tod dachte, als sei meine Seele plötzlich erwachsen geworden. Dieser schreckliche Gedanke an den Tod, daran, daß ich vielleicht schon tot war, brachte mich damals fast um den Verstand. Rings um mich herum war nur Dunkelheit. Ich dachte, dies sei vielleicht, nein, gewiß der Weltuntergang. Ich lag da und wartete auf die Dämmerung und tat kein Auge zu. Ich hatte Angst, im Schlaf zu sterben. Ich wollte es bei vollem Bewußtsein miterleben. Ich stellte mir auch noch vor, daß alle sterben würden, daß die ganze Menschheit aussterben würde, aber dieser Gedanke berührte mich nicht. Den Weltuntergang erlebt jeder Mensch für sich allein. Gegen Morgen fing ich an, Nadjka zu suchen, ich glaubte trotz allem, daß sie mit einem anderen Autobus gekommen war. Als ich sie zwischen all den Kindern, die dort auf dem Steppenboden schliefen, nicht fand, ging mir auf, daß sie völlig hilflos und ohne zu begreifen, was geschah, allein in der Stadt zurückgeblieben war, allein mit dem Tod. Was machte sie dort allein? Ich habe sie dem Tod ausgeliefert, dachte ich, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich zitterte wie wahnsinnig – bis irgendwann die Sonne aufging, bis es hieß, die Zeit des an
gedrohten Angriffs sei verstrichen, es würde keinen Krieg geben.
Viel später erfuhr ich von meinem Vater, daß er in dieser Nacht Dienst hatte und theoretisch der Mensch hätte sein können, der den Knopf drückte, woraufhin die Welt in Stücke geflogen wäre. Ich fragte ihn: »Was habt ihr denn gemacht, woran habt ihr gedacht, als ihr da an den Knöpfen gesessen habt, vor dem Weltuntergang?« Er dachte kurz nach, dann sagte er: »Wir haben Préférence gespielt.« Ich hatte etwas Besonderes erwartet, irgendeine Offenbarung hatte ich von dem Menschen erwartet, der die Welt hätte zerstören können. Und dann so etwas Banales. Später erst verstand ich: Ja, so mußte es sein. Die Apokalypse muß genau so eintreten wie bei Tschechow: Bevor man sich eine Kugel in den Kopf schießt – sich oder der Welt –, spielt man Préférence.
Mein Vater, ein schöner Mann, der gerne lachte und die Seele der ganzen Kompanie war, der eine glänzende militärische Karriere machte und es im Alter von 33 Jahren bis zum Major gebracht hatte, reichte nach der Kubakrise sein Gesuch um Versetzung in den Ruhestand ein. Er verließ meine Mutter und mich, und er verließ die Stadt, um nie wiederzukehren.
Meine Mutter meinte immer, in jener Nacht habe er den Verstand verloren.
Ich meine, wir alle in der Stadt haben damals den Verstand
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