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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zusammen waren, konnte uns nichts Schlimmes passieren. Aufgeregt liefen wir zur Straße des Sieges, zur Schule Nr. 232 – wie früher, beim Probealarm. Für uns war es wie ein Spaß. Mama hatte erzählt, wie sie als Kinder 1941 die Nachricht vom Kriegsausbruch mit Freudengeschrei begrüßt hatten. Es wurde schon dunkel, aber die Straßenbeleuchtung blieb ausgeschaltet. Leute kamen uns entgegengerannt, vor allem Soldaten und Offiziere. Sie sprangen auf Lastwagen und in Autobusse und fuhren davon. Auf dem Platz um das Lenindenkmal wimmelte es von »Zivilen« – so nannte man in unserer Stadt verächtlich die Männer, die nicht zum Militär gehörten –, Frauen mit Säuglingen, älteren Menschen. Jemand mit einem Megaphon forderte sie mit gellender Stimme auf, nicht in Panik zu geraten und ruhig auf die Autobusse zu warten, die
sie an einen sicheren Ort bringen würden. Aber welcher Ort auf der Welt konnte in einer solchen Nacht schon sicher sein?
    Hand in Hand liefen wir durch die dunklen Straßen, am Haus der Offiziere vorbei, wo wir immer zur Weihnachtsfeier gingen und zur Totenfeier für abgestürzte Flieger, ins Kino oder ins Konzert. Dann durch die Straße der Sowjetarmee, vorbei an einem großen Haus hinter einem hellblauen Zaun, dort wohnte General Wassili Iwanowitsch Wosnjuk, ein kleiner, kahlköpfiger und sehr gutmütiger Mann, der am Aufbau unserer Stadt beteiligt gewesen war; wie oft hatten wir bei ihm auf dem Zaun gesessen und Kirschen gepflückt, neben dem geräumigen Gästehaus für die Raketenbauer, die aus Moskau und anderen Städten zu uns kamen, um die Raketen zu perfektionieren und für den Start bereitzumachen; hier hatte uns »Onkel Serjoscha« im Auto spazierengefahren, erst später erfuhren wir seinen Familiennamen: Koroljow, der oberste Ingenieur im Raketenbau, ein berühmter Pionier der sowjetischen Raumfahrt. Vorbei an dem Holzhäuschen Nummer zehn, wo Natascha wohnt, vorbei an Haus Nummer acht, wo Mama und ich wohnen. Mein Vater wohnt nicht bei uns, sondern in einem Wohnblock an der Tschernjachowski-Straße. Wir laufen die Uferstraße der Artillerie entlang, wo sich die Filterstation befindet, dort bringt Mama Wasser zur Analyse hin, das ist ihr Beruf; und dann die Straße der Luftfahrt, an der »Deschurka« vorbei, dem Lebensmittelgeschäft, wo wir immer Brot geholt haben, Schwarzbrot für 14 Kopeken und Weißbrot für 20 Kopeken pro Kilo, und zu jedem Laib Weißbrot gab es noch eine Kruste, die wir längst aufgegessen hatten, wenn wir zu Hause ankamen. Vor der »Deschurka« ist eine gro
ße schwarze Grube ausgehoben, dort wird seit ewigen Zeiten ein Wasserrohrbruch repariert. Wir müssen auf einem schmalen, glitschigen Pfad um die Grube herum. Dann an der Leninstraße vorbei, wo jedes Jahr die Erste-Mai-Parade stattfand, am Boulevard des 9. Mai vorbei, dort war die Badeanstalt. Am Soldatenpark vorbei, wo der Wasserturm stand, der den Himmel abstützte; von dort oben konnte man die ganze Stadt sehen und das Dorf und den Fluß Postepka, der durch das Dorf floß, und die Melonenfelder und ein Stück vom Achtuba-Fluß und sogar die Wolga, die irgendwo mit dem Himmel verschmolz. Ich lief und lief und verabschiedete mich von der Stadt.
    Wir stellten uns auf dem Schulhof auf und bekamen Tüten mit Trockenproviant.
     
    Die Jungen im Autobus redeten aufgeregt durcheinander: »Zuerst, bei der ersten Stoßwelle, sterben die, die in der Stadt geblieben sind. Wir sterben beim zweiten. Aber unsere Raketen reichen weiter, und wir vernichten Amerika.«
    Wir wurden in die Steppe gebracht. Die Scheinwerfer beleuchteten zwei verkrüppelte Pappeln. Ich stieß Natascha an.
    »Erkennst du die Stelle? Die zweite Stellung.«
    Im Frühling waren Natascha und ich hierher gekommen, um Tulpen zu pflücken. Wir fuhren mit dem Fahrrad, wir sahen, daß die Steppe rot von Tulpen war – und waren wie von Sinnen. Wir pflückten und pflückten, einen blutfarbenen Haufen nach dem anderen schichteten wir neben unseren Fahrrädern auf. Dann legten wir uns hin, um auszuruhen, und schliefen ein, ermüdet von der Frühlingssonne.
Die ganze Steppe suchten sie nach uns ab. In der Steppe findet man einen Verirrten genauso schwer wie im Wald. Gegen Abend hatten sie uns gefunden, und wir wurden im Militärbus in die Stadt gebracht. Die Tulpen legten wir am Fuß des Kleinen Lenindenkmals nieder. Bei uns in der Stadt gab es zwei Lenindenkmäler – ein riesiges auf dem Platz, und ein kleines, in Menschengröße im Park. Dorthin

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