Das Winterhaus
gegessen, und der auch an der Beerdigung teilgenommen hatte. Sie hatte ihn vorher nicht mit Merchants Warenhaus in Verbindung gebracht. Er muß reich sein, flüsterte es in ihrem Kopf.
»Miss Read. Wie reizend, Sie zu sehen.«
»Mr. Merchant.« Maia bot ihm lächelnd die Hand.
Er war beträchtlich älter als sie – Anfang Dreißig ihrer Schätzung nach. Lockiges rotbraunes Haar, kurz geschnitten, und ein kleines, schmales Oberlippenbärtchen.
»Haben Sie viele Einkäufe zu machen, Miss Read?«
Irgend etwas veranlaßte sie, den Brief in die Tasche zu schieben und leichthin zu sagen: »Oh – nur ein paar Kleinigkeiten. Bänder und Garn.« Sie sah sich um und lachte ein wenig. »Wie dumm von mir. Ich bin offensichtlich in der falschen Etage.«
»Darf ich Sie in die Kurzwarenabteilung begleiten, Miss Read?«
Mr. Merchant bot ihr seinen Arm, und Maia nahm ihn. Er erkundigte sich nach ihrer Mutter und äußerte sich mit Bedauern über ihren Vater, während sie nach unten gingen. In der Kurzwarenabteilung saß sie untätig da, während Verkäuferinnen auf seinen Befehl Bänder, Knöpfe und Garnrollen herbeibrachten. Ihr fiel auf, daß er zwar seine Autorität genoß, daß aber dieser Genuß nicht seine Kompetenz und Geschäftstüchtigkeit in den Hintergrund drängte.
Schließlich hatte sie ihre wenigen Einkäufe beisammen und dankte Gott im stillen, daß sie genug Geld in ihrem Portemonnaie hatte, um für sie zu bezahlen. Er trug ihr kleines Päckchen und ging mit ihr durch die Parfümabteilung zur Haupttür.
Sie konnte nicht widerstehen zu fragen: »Ist das Ihr Geschäft, Mr. Merchant?«
Als er lächelte, sah sie seine kleinen, spitzen weißen Zähne.
»Vom Keller bis zum Dachboden. Es war ein Eisenwarengeschäft, bevor ich es übernommen habe. Erinnern Sie sich nicht, Miss Read?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir bekamen die meisten Dinge geliefert. Wir sind selten einkaufen gefahren.«
»Finden Sie es nicht angenehm, Miss Read, wählen zu können, was man will? Sich die Angebote anzusehen und dann zu entscheiden, was genau man haben möchte?«
Er sah sie mit seinen braunen Augen an, die einen rötlichen Schimmer zu haben schienen, und sie blickte weg. Und sie errötete auch nicht; sie errötete niemals. Er ist nicht im geringsten gutaussehend, dachte sie, aber er besitzt eine Aura von Macht und Stärke. Sie fand seine Worte nicht unverschämt, nur herausfordernd. Es war lange her, daß ein anderer Mensch auch nur einen Funken Interesse bei ihr geweckt hatte.
Und außerdem gehörte ihm dies alles hier. Die hellen Lichter, die chromblitzenden Verkaufstische und die weichen Teppiche, das alles war sehr beeindruckend. Zum erstenmal seit Monaten dachte Maia wieder an das Ziel, das sie sich gesetzt hatte. »Ich heirate mal einen reichen Mann«, hatte sie zu Robin und Helen gesagt. »Dann wohne ich in einem gigantischen Haus.«
Sie reichte ihm die Hand und verabschiedete sich mit Dank. Als sie die Straße hinunterging, wußte sie, daß er ihr nachsah, daher wartete sie, bis sie um die Ecke gebogen und außer Sicht war, ehe sie den zerknüllten Brief in den Rinnstein warf.
Da sie spürte, daß Vernon Merchant so klug und berechnend war wie sie selbst, war Maia vorsichtig. Sie fand Arbeit im Büro einer Firma, die darauf spezialisiert war, Telefone und elektrische Beleuchtung zu installieren. Ihre Arbeitsstelle war am Stadtrand von Cambridge; Maia mied das Zentrum. Es wäre ein Fehler gewesen, jeden Tag zu Merchant zu gehen, in der Hoffnung, ihm zu begegnen. Er hätte sie verachtet.
Er rief einen Monat nach ihrer Begegnung an. Es war sechs Uhr; Maia war gerade aus dem Büro zurückgekommen. Das Mädchen reichte ihr das Telefon.
»Miss Read?«
Sie erkannte seine Stimme sofort. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ja.«
»Vernon Merchant hier. Wie geht es Ihnen, Miss Read?«
»Gut, danke, Mr. Merchant.« Sie wartete darauf, daß er fortfahren würde.
»Ich habe heute abend zwei Karten für das Theater. Würden Sie mitkommen?«
Seine Direktheit amüsierte sie. Keine Entschuldigung für die Kurzfristigkeit der Einladung; keine geäußerten Befürchtungen, daß sie bereits etwas anderes vorhaben könnte. Keine Erklärung, wie er sie aufgestöbert hatte.
»Mit Vergnügen, Mr. Merchant«, sagte Maia gleichermaßen direkt. »Sie können mich um sieben Uhr abholen.«
Von da an rief er sie jede Woche an. Er führte sie ins Theater, in Restaurants, zu Gesellschaften. Für das Kino dagegen hatte er
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