Das Winterhaus
die Achseln. Da kam Robin plötzlich ein wundervoller, beängstigender Gedanke. Sie griff in ihre Tasche und zog ihr Portemonnaie heraus.
»Ich habe nur – ach, du meine Güte, fünf Shilling und sieben Pence.«
»Ich kann dir was geben, Darling. Genug für die Fahrt nach London. Ich muß zwar mein Leben hier bezahlen, aber Margery kann warten.«
Maia ging aus dem Zimmer. Helen rief mit runden Augen: »London! Oh, wie aufregend. Robin – du kannst doch nicht –«
Und ob sie konnte. Auch wenn die Vorstellung sie gleichzeitig faszinierte und erschreckte – sie konnte.
Maia kam mit einem kleinen Beutel zurück. »Hier sind ein Paar Strümpfe, Seife, ein Waschlappen und eine Zahnbürste. Du hast sicher nicht an diese Dinge gedacht. Und hier sind zwei Pfund.«
Sie reichte Robin die Scheine, die Robin in ihre Geldbörse steckte. Auch Helen kramte in ihrer Tasche und brachte eine Handvoll Münzen zusammen. »Ich sage Daisy und Richard, daß es dir gutgeht«, versprach sie, als sie Robin die Münzen in die Hand schüttete, »damit sie sich keine Sorgen machen.«
Maia hockte sich auf die Tischkante und riß eine Packung Zigaretten auf. »Verändere die Welt, Robin, mein Schatz.« Ihre hellen Augen zogen sich zusammen, als sie lachte: »Ich werde wohl eine Weile in diesem Nest hier festsitzen – der Märchenprinz scheint anderweitig beschäftigt zu sein –«
»– der einzige junge Mann, den ich in letzter Zeit kennengelernt habe, ist der neue Hilfspastor, und der hat eine Warze auf der Nase –«
»– und da wir mit Buchhaltungskursen und Wohltätigkeitsbasaren und anderen Gemeindeangelegenheiten zu tun haben, mußt du jetzt wenigstens das Fähnlein hochhalten, Robin, und deine Mädchenträume verwirklichen.« Maias Ton war zynisch, als sie Robin den Beutel hinhielt. »Los, mach dich auf den Weg. Und beeil dich, der Zug nach London fährt um Viertel nach.«
Robin nahm Maia und Helen kurz in die Arme und drückte sie, bevor sie ging. Am Bahnhof in Cambridge kaufte sie sich eine Fahrkarte und rannte den Bahnsteig entlang, als die Lokomotive bereits die ersten Dampfwolken ausstieß. Erstaunte Fahrgäste starrten sie an, als sie eine Tür aufriß und fast ins Abteil hineinfiel. Der Zug, der sie in die Stadt bringen sollte, in ein neues Leben, fuhr ab.
Am Tag, nachdem Onkel Sydney versucht hatte, ihr den Gutenachtkuß auf den Mund zu geben statt auf die Wange, begann Maia ernsthaft nach Arbeit zu suchen. Bis dahin war sie von einer Art Lähmung befallen gewesen, eine Nachwirkung des Alptraums, der der Tod ihres Vaters für sie gewesen war. In einem Vermittlungsbüro für Bürokräfte in der St. Andrew's Street schrieb Maia eine Liste ihrer dürftigen Qualifikationen zusammen und bekam ein Einführungsschreiben an die Buchhaltungsabteilung der Firma Merchant.
Ehrfürchtig trat sie durch das breite zweiflügelige Portal des Warenhauses, geblendet vom Glanz der Dinge, die sie sich immer gewünscht hatte, teure Kosmetika und Parfüms, Lederhandschuhe, Seidenschals, Strümpfe so fein wie Spinnweben. Die Lokalzeitungen brachten oft Anzeigen des Kaufhauses Merchant: »Merchant – Cambridges modernstes Kaufhaus – das erste Haus am Ort. Feine Tuche und Stoffe, alles für das Heim, Putz- und Modewaren, Blusen und Bekleidung, Leihbücherei.«
Auf halbem Weg die Treppe hinauf blieb sie stehen und blickte zu den glitzernden Lichtern und prächtigen Farben hinunter, sog diese Atmosphäre von Wohlstand und Wärme in sich hinein. Sie wußte, sie hätte ebenso elegant aussehen können wie die Damen in den Pelzen, die französische Parfüms kauften, ebenso schön wie die gemalten Gesichter, die von den Plakaten der Kosmetikabteilung herabblickten. Es schien Maia, daß sie mit den Pelzen, dem Puder, dem Parfüm die Sicherheit hätte gewinnen können, die sie suchte.
Als sie mit dem Einführungsschreiben in der Hand nach oben ging, wußte sie nicht, wie sie es ertragen sollte, zusammen mit einem Dutzend anderer Mädchen, den ganzen Tag in einem engen kleinen Büro eingepfercht zu sein und höchstens ab und zu einmal einen Blick auf diese andere Welt werfen zu dürfen. Doch sie trug ihren Kopf hoch und achtete darauf, daß ihr Gesicht nichts von Bitterkeit und Niedergeschlagenheit zeigte. Als sie das erste Stockwerk des Kaufhauses durchquerte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Sie erkannte Mr. Merchant, der an jenem schrecklichen Tag, als ihr Vater ihnen ihren bevorstehenden Bankrott mitgeteilt hatte, bei ihnen zu Abend
Weitere Kostenlose Bücher