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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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auf dem Friedhof wieder an dem geschmückten Tannenbaum zu schaffen. Wahrscheinlich wollte sie ihrem toten Mann ein unvergessliches Weihnachtsfest bereiten.
    Ich folgte der Pastorin die wenigen Schritte zum Pfarrhaus. Sie sagte kein Wort, sondern hielt Ausschau, als müsste ihr Sohn irgendwo auf der Lauer liegen. Vor ungefähr vierzig Jahren hatte ich zum letzten Mal ein Pfarrhaus betreten; damals war ich ein dreizehnjähriger Junge gewesen, der sich als Einziger seiner Klasse geweigert hatte, Messdiener zu werden. Der Pastor, ein knöcherner katholischer Priester, der seinen Gemeindemitgliedern in den Predigten nur zuschrie, sie müssten wieder zu betenden Menschen werden, wollten sie der Verdammnis entgehen, hatte mich zu sich bestellt, um mich mit heimtückischen Fragen zu traktieren. Am meisten aber hatte mich damals der Geruch im Pfarrhaus angeekelt. Es hatte nach Schweißfüßen und alten Kleidern gerochen.
    Die Pastorin lebte in einem ganz anderen Pfarrhaus. Hier hatte man das Gefühl, mehrere helle, lichte Düfte einzuatmen, seltsamerweise den Duft von Blumen, von feuchtem Moos und von etwas, das mich an frische Zitronen erinnerte. Wir gelangten in einen winzigen Flur, an dem wie ein Einsatzplan eine große Tafel mit vielen Kärtchenund Anstecknadeln hing. Ich zog meinen Mantel aus, und sie entledigte sich ihres Talars, unter dem sie nur einen grauen Pullover und schwarze Jeans trug. Dann gelangten wir in eine geräumige Küche, die verriet, dass der Pastorin in der letzten Zeit ein paar Dinge über den Kopf gewachsen waren. Zwischen den Resten eines kargen Frühstücks oder eines vergessenen Abendessens lagen Zeitungen und Papiere auf einem großen Holztisch. Auf zwei Stühlen stapelten sich Bücher und zerfledderte Akten.
    »Schauen Sie sich bitte nicht allzu genau um«, sagte die Pastorin mit einem müden Lächeln. »Ordnung gehört nicht zu meinen Stärken.« Hastig räumte sie zwei Tassen und eine Schale, in der noch ein Rest Milch schwamm, in das Spülbecken, in dem sich schon andere Tassen und Teller stapelten. Dann setzte sie einen Wasserkessel auf den Herd. Als sie sich wieder umwandte, begann irgendwo im Haus ein Telefon in einem merkwürdig schrillen Ton zu klingeln, doch die Pastorin achtete nicht darauf. Sie strich sich mit einer anmutigen Bewegung eine rote Locke hinter das Ohr, eine Geste, die ich seit Jahren nicht mehr bei einer Frau gesehen hatte.
    »Sie haben wahrscheinlich die Gerüchte über mich gehört«, sagte sie. Dann lächelte sie mit einem leichten Ausdruck des Schmerzes in den Augen. »Genauso wie mir natürlich die Gerüchte über Sie nicht entgangen sind. Es scheint beinahe, als säßen wir beide auf einem untergehenden Schiff.«
    Die Pastorin konnte nicht annähernd ahnen, wie Recht sie hatte. Allerdings war mein Schiff im Grunde längst untergegangen.
    »Mir hat niemand etwas über Sie erzählt«, erwiderte ichund setzte mich auf den einzigen freien Stuhl. »Ich weiß nur, dass sich Ihr Mann umgebracht hat.«
    »Damit hat alles Unglück begonnen.« Ich konnte die Pastorin kaum verstehen. Sie schüttete Tee in ein Sieb und sprach wie zu sich selbst. »Nein, das Unglück hat viel früher begonnen. Vielleicht schon vor über zehn Jahren, als wir in dieses stumme Dorf gezogen sind.« Abrupt drehte sie sich um und starrte mich an. Beinahe anklagend war ihr Blick. »Der Junge kommt damit nicht zurecht. Er spricht kaum noch, jedenfalls nicht mit mir. Er hasst mich, weil er glaubt, dass ich an allem Schuld bin, dass ich seinen Vater auf dem Gewissen habe. Und ich kann ihm nichts erklären. Manchmal ist er so wirr, dass er sich in den See stürzt, weil sein Vater früher mit ihm schwimmen gegangen ist. Nichts haben die beiden mehr geliebt, als abends kurz vor Sonnenuntergang im See zu schwimmen.«
    Das Wasser kochte, und sie goss es mit einer ungelenken, hastigen Bewegung in die Teekanne. Einen Moment lang fürchtete ich, sie würde sich dabei verbrennen.
    »Ihr Sohn verfolgt mich«, sagte ich. »Er läuft mir nach.«
    Sie nickte und machte einen Schritt auf mich zu. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl, auf dem schon ein Stoß Akten lag, und begrub ihr Gesicht in den Händen. Sie hatte nichts mehr gemein mit der Priesterin, die vor einer Stunde noch am Altar gestanden und über die Wunder der Weihnachtszeit gesprochen hatte. Ich fürchtete, ein Schluchzen zu hören, dann hätte ich gar nicht mehr gewusst, was ich tun sollte, doch sie blieb ganz still, als lauschte sie tief in sich

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