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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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hinein. Ich sah, dass eine Strähne an ihrem Hinterkopf viel dunkler war, ein schweres Kupferrot, und hätte gern an ihrem Haar gerochen; ein plötzlicher Wunsch, der mich selbst erstaunte.
    Als sie wieder aufschaute, war ihr Blick klar und ohne jede Anklage. »Ich glaube, ich sollte Ihnen einiges erklären. Es geht nicht um Sie.« Die Pastorin nahm ihre unmoderne Nickelbrille ab und schaute mich mit ihren grünen Augen an, als könnte sie mich ohne Brille viel besser sehen. »Es geht um das Haus. Für Mark sind Sie ein Eindringling. Obwohl er genau weiß, dass es nicht so ist, hält er es für sein Haus.«
    »Und er will mich am liebsten vertreiben, weil das Haus ihn an seinen Vater erinnert, weil sein Vater sich manchmal dorthin zurückgezogen hat.« Ich brauchte nicht viel Phantasie, um mir einiges von der Geschichte zusammenzureimen.
    »Ja, so ist es wohl.« Die Pastorin zeigte keine Überraschung. Sie erhob sich wieder und nahm das Teesieb aus der Kanne, um uns danach zwei Tassen einzuschenken. Zucker und eine Flasche Milch standen noch auf dem Tisch.
    »Wie kam es, dass Ihr Mann sich ausgerechnet dieses Haus ausgesucht hat, um sich vor der Welt zu verstecken?«
    Sie trank den ersten Schluck Tee, bevor sie antwortete. »Ihr Vater hat ihn noch als Gärtner ausgesucht. Später hat niemand den Vertrag gekündigt. Am Anfang hat Michael seine Sache noch ganz gut gemacht, auch wenn er gar kein richtiger Gärtner war, aber dann …« Sie flüchtete sich wieder in ein Lächeln. »Dann hat er vollkommen die Orientierung verloren.«
    Michael Conrad – der Junge hatte auf dem Grab seines Vaters gesessen, als ich ihn auf dem Friedhof gesehen hatte.
    Die Pastorin schwieg, ratios, wie sie weitererzählen sollte.Das Wort »Selbstmord« oder »Freitod« nahm niemand gerne in den Mund, auch eine aufgeschlossene, protestantische Geistliche nicht, wenn sie über ihren eigenen toten Mann sprechen musste.
    Ich zog den Brief, den ich zwischen den Schallplatten meines Vaters gefunden hatte, aus meiner Tasche, faltete ihn langsam auseinander und legte ihn vor ihr auf den Tisch.
    Sie setzte ihre Brille wieder auf und schaute mich fragend an. Zwei kleine, zarte Falten schoben sich auf ihre Stirn, aber in ihren Augen las ich, dass ein kurzer Blick genügt hatte, um zu begreifen, was da vor ihr lag: der Abschiedsbrief ihres Mannes. Hatte sie nach einem solchen letzten Schreiben gesucht? Oder hatte sie angenommen, es existierte gar nicht? Sie machte keine Anstalten, den Brief in die Hand zu nehmen, als gehörte er mir, als wäre es unhöflich, ihn genauer zu betrachten.
    »Ich habe den Brief durch Zufall gefunden. Ihr Mann hat sich in dem Haus meines Vaters umgebracht, nicht wahr?«
    Die Pastorin wandte den Blick ab und starrte zum Fenster herüber. Für einen Moment glaubte ich draußen den Schatten des Jungen zu sehen. Wahrscheinlich hätte er liebend gerne unser Gespräch belauscht. Seine Mutter antwortete mir nicht. Wir saßen jeder in unserem eigenen Schweigen da. Ich begann mich unbehaglich zu fühlen. Einzelne Geräusche erreichten mich, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Das Summen des Kühlschranks, das Rauschen eines vorbeifahrenden Wagens, Schritte auf der Straße, eine helle Kinderstimme, die etwas rief, dann schlugen die Kirchturmglocken. War ich mit meiner Frage zu weit gegangen? Was kümmerte es mich,dass sich ausgerechnet in dem Haus, in das ich geflohen war, um mein Leben zu beschließen, jemand getötet hatte? Plötzlich fiel mir ein, wie seltsam die Pastorin bei ihrem kurzen Besuch zum Haus hinübergeblickt hatte. Sie hatte Angst vor dem Haus wie vor einer wirklichen Gefahr. Das Haus konnte zaubern und hatte schon ihren Jungen verhext.
    Wieder klingelte irgendwo in den hinteren Räumen das Telefon, ohne dass die Pastorin darauf reagierte. Stattdessen nahm sie den Brief, faltete ihn ganz beiläufig zusammen, als hätte er keine Bedeutung, und erhob sich.
    »Haben Sie noch ein wenig Zeit? Würden Sie mit mir zum See gehen?«
    Ich nickte und fügte ein »sehr gern« hinzu, das meine Bereitschaft betonen sollte, aber mir selbst eher hilflos vorkam.
    Wortlos zogen wir unsere Mäntel an und gingen auf den Vorplatz hinaus. Das Dorf war in ein unwirkliches, milchiges Licht getaucht. Es roch wieder nach Schnee, als könnte sich im nächsten Moment der Himmel auftun und eine gewaltige Lawine herabrollen. Nur von der Hotelpension gegenüber der Kirche leuchteten grelle Lichter herüber.
    »Sie sollten die Kerzen Tag und

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