Das Winterkind
Nacht brennen lassen«, sagte ich und deutete auf den geschmückten Weihnachtsbaum, der, düster und grau, wie er dastand, keine frohe Botschaft verkündete, sondern eher den Eindruck vermittelte, als würde hier in diesem Dorf das Weihnachtsfest dieses Jahr ausfallen.
»Da haben Sie schon wieder Recht«, erwiderte die Pastorin, ohne dass ich begriff, was mit diesem »schon wieder« gemeint war. Sie ging zu dem Baum hinüber, drehte an einer Kerze auf einem der unteren Zweige, und überallflammten die elektrischen Lichter auf. Sogar der Trompete blasende Engel an der Spitze war wieder zu erkennen.
Mehr redeten wir in den nächsten Minuten nicht. Wir liefen nebeneinander her, wie ein Paar, das sich schon stundenlang ausgesprochen hatte und das keine Sprache mehr brauchte.
Der See lag in stillem, grauem Dunst da. Nichts regte sich auf ihm, nur weit entfernt war noch eine Stelle auszumachen, die noch nicht von Eis überzogen war. Ein paar dünne Wellen kräuselten sich da. Am Ufer rutschten Enten ungelenk auf dem Eis herum. Ein kalter Wind wehte behutsam durch das Schilf. Was tat ein Fischreiher wie Licht bei diesen Temperaturen? Wo fing er seine Fische, wenn der See komplett zugefroren war?
Die Pastorin blickte nachdenklich auf den See. Es sah aus, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders, bei ihrem toten Mann, bei ihrem Sohn, in einer anderen, glücklichen Zeit. Ich kam mir überflüssig vor und spürte eine wachsende Ungeduld, wie bei Ira, wenn sie an unseren Sohn gedacht hatte und eigentlich gar nicht da gewesen war. Von einem schweigsamen Marsch um den See hielt ich nicht allzu viel, aber mir fiel auch nichts ein, um das Schweigen zu vertreiben, und eines wollte ich mit Bestimmtheit nicht, von mir erzählen, von dem düsteren Grund, warum ich zum See gekommen war.
»Wenn Sie an mich denken …« Die Pastorin blieb plötzlich stehen und schaute mich an. Grün funkelte die Neugier in ihren Augen auf. »Was denken Sie dann genau? Sagen Sie in Gedanken >die Pastorin<, oder sagen Sie >Hedda«
Was für eine seltsame Frage! Warum nahm sie an, dass ich an sie denken würde?
»Nun«, erwiderte ich einigermaßen diplomatisch. »Für mich sind Sie die Pastorin des Dorfes, auch wenn ich offen gestanden nicht besonders religiös bin.«
»Schade.« Die Pastorin verzog den Mund in gespielter Enttäuschung. »Sie sollten >Hedda< sagen, wenn Sie an mich denken.« Sie zog eine Schachtel Zigaretten und ein rotes Plastikfeuerzeug aus ihrer Manteltasche und hielt mir die Packung hin.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin immer Nichtraucher geblieben. Mein Vater hat Zigarre geraucht. Ich habe diesen Geruch gehasst.«
Die Pastorin rauchte mit schnellen, abgehackten Bewegungen, wie eine Süchtige, die sich nicht erwischen lassen wollte. »Gehören Sie auch zu den Menschen, die immer das Gegenteil von dem getan haben, was ihre Eltern ihnen vorlebten?«
»Nein, eher nicht«, erwiderte ich hastig, obwohl es eine Lüge war. Ich hatte wenig Lust, über meinen Vater zu sprechen.
»Ihr Vater war ein großartiger, feiner Mensch. Er hat uns aus großer Not geholfen. Ohne ihn hätten wir die Kirche nicht so schnell wieder aufbauen können.«
Vielleicht verhielt er sich hier am See anders, hätte ich am liebsten geantwortet. Hier war er anscheinend nicht der selbstherrliche Tyrann, den ich gekannt hatte; hier konnte er sogar junge, schöne Priesterinnen beeindrucken.
Die Pastorin warf ihre Zigarette achtlos auf das Eis, dann beugte sie sich zu mir vor, als wollte sie mich auf die Wange küssen. Ich roch ihr Parfüm, das mich an den hellen, frischen Duft in ihrem Haus erinnerte. »Danke, dass Sie mich begleitet haben, aber ich muss leider zurück. In einer Stunde kommt eine Kindergruppe ins Pfarrhaus, derich die Weihnachtsgeschichte erzählen muss.« Sie hob ihre Hand, die von der Kälte ganz rosig wirkte, zum Gruß, dann eilte sie davon, als hätte sie sich schon hoffnungslos verspätet, doch nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um.
»Sagen Sie einmal Hedda!«, rief sie mir zu.
»Hedda«, entgegnete ich mit lauter Stimme. »Hedda, passen Sie auf sich auf.«
Nachdem Hedda gegangen war, hatte ich das Gefühl, als wäre eine ungeheure Müdigkeit wie ein Geschwür in mir aufgebrochen. Außerdem kam ich mir nach ein paar Stunden Gesellschaft wie jemand vor, der gerade verlassen und in eine abgrundtiefe Einsamkeit gestoßen worden war. Natürlich war das alles Unsinn. Ich hatte schließlich schon fast drei Wochen
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