Das Winterkind
Fischreiher in nächster Zeit auch nur eine Feder gekrümmt wird, dann sorge ich dafür, dass Sie Ihre Fischteiche eigenhändig zuschütten müssen und an Ihrer Tankstelle allenfalls noch Speiseöl verkaufen dürfen.«
Holty hob die Hände in einer schwachen Geste der Unschuld. Doch ein leichter Stoß gegen die Brust genügte nicht nur, um ihn einen Schritt zurückweichen, sondern ihn förmlich in sich zusammensinken zu lassen. Ich ließ ihn stehen, bleich und besiegt, und stieg wieder ein.
Ochs lächelte mich an. »Ein starker Auftritt, Chef«, sagte er. »So wie früher, wenn alle vor Ihrem Machtwort gezittert haben.«
»Nein, Ochs«, verbesserte ich ihn. »Früher hat mir so etwas nicht so viel Spaß gemacht.«
Die nächste Nacht würde Licht nicht mehr in seiner engen Kiste verbringen müssen. Eine Frage hatte ich also geklärt, aber wahrscheinlich war es auch die einfachste von allen gewesen.
Wir errichteten Licht ein wunderbares Dach, spannten das weiße Tuch über sein Gehege, dass es beinahe wie ein Sonnensegel aussah. Nun würde dem Fischreiher auch die getigerte Katze nichts mehr anhaben können. Ochs erwies sich einmal mehr als echte Hilfe. Dann aber hatte ich es eilig,ihn in der Hotelpension unterzubringen. Ich klemmte mich hinter das Steuer des Mercedes und fuhr mit ihm als Beifahrer ins Dorf. Das Lenken eines großen Wagens war ich nicht mehr gewöhnt, doch Ochs war taktvoll genug, sich jeden Kommentars über meinen holprigen Fahrstil zu enthalten.
Als ich ihn vor der Hotelpension absetzte, warf er mir einen traurigen Blick nach, als würde da sein eigenes Leben vor seinen Augen davonziehen und nur Leere um ihn zurückbleiben. Ein wenig stimmte es womöglich auch. Dieser mächtige, graue Mercedes gehörte weit mehr ihm als mir; in ihm verbrachte Ochs sein halbes Leben. Es war, als würde ich ihn schutzlos zurücklassen und mit seinem Kokon spazieren fahren. Ich brauchte keine Qualitäten als Wahrsager, um zu wissen, was er in der nächsten halben Stunde tun würde. Er musste Ira erklären, dass er heute nicht mehr mit mir zurückkehren würde. Das war die zweite Seite seines Unglücks. Ira konnte nicht nur ein schwarzer, stummer Vogel sein, der unerreichbar in seinem Schweigen dahinsegelte. Manchmal war sie auch ein Raubvogel, stürzte sich mit tödlicher Präzision auf ihr Opfer und traf es an der verwundbarsten Stelle. Darin bestand ihre größte Stärke: Sie spürte sofort, wo ihr Gegenüber verwundbar war. Ochs war nie ein ernst zu nehmender Gegner für sie gewesen; ein lauteres Wort, ein düsterer Blick, und er hätte sich am liebsten wie ein winselnder Hund zu ihren Füßen gelegt. Meine größte Schwäche war der Vergleich mit meinen Vater – »du bist wie dein Vater … das hat dein Vater auch immer gemacht« – und die Tatsache, dass ich Ira über die Jahre immer mehr geliebt hatte als sie mich. Aber das war vorbei. Ich begriff, dass ich mich in einer Welt aufhielt, die nicht zu Ira gehörte, die überhauptzu nichts gehörte, das zuvor eine Rolle in meinem Leben gespielt hatte. Mit einer Ausnahme: Mein Vater hatte hier am See mit seinem Leben abgeschlossen, bis er nicht mehr allein zurechtkam und er gegen seinen Willen in ein Pflegeheim eingewiesen wurde.
Die Dunkelheit brach herein. Ich fuhr in bläulichem Licht zum Haus zurück. Der Schnee auf den Wiesen glänzte, als würde sich ein tiefes, blaues Meer in ihm spiegeln. Ganz weit entfernt liefen drei Pferde durch den Schnee und sahen aus wie Fabelwesen. Auch Licht schien die besondere Atmosphäre zu spüren. Unruhig lief er in seinem Käfig auf und ab und versuchte seine Flügel auszubreiten. Ich bereitete sein Futter zu, gab ihm frisches Wasser und redete mit ihm wie mit einem alten, verständnisvollen Freund, erzählte ihm von Hedda und unserem Rendezvous. Ich würde sie mit dem Auto abholen, wir würden noch eine Weile durch die Winterlandschaft fahren, vielleicht einmal die Straße entlang, die um den See führte, bevor wir Halt machten und in einem guten Restaurant einkehrten.
Licht krächzte den Sternenhimmel an und hörte mir nicht zu. Sehnsucht und Trauer klangen aus seinen Rufen. Als ich später wieder aufbrach, stand er reglos in seinem Käfig und lauschte in die Dunkelheit hinaus.
Die Straßen waren wieder vereist. Ich rollte langsam ins Dorf, fast im Schritttempo, und hatte Angst, Ochs könnte mit seinem traurigen Blick hinter einer Ecke auf mich lauern. Die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum vor der Kirche brannten.
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