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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Ich meinte sogar, ihr Licht zu hören, ein leises Surren in der klaren Winterluft, als ich auf das Pfarrhaus zuging. Überhaupt waren viele Geräusche plötzlich überdeutlich zu hören. Hundegebell, das Rauschen einesZuges weit in der Ferne, Stimmen aus dem Lokal auf der anderen Straßenseite und meine eigenen Schritte.
    Ich sah mir selbst zu, wie ich meine rechte Hand auf die Klingel legte, und wusste plötzlich, dass der Abend entweder eine Katastrophe oder ein großartiges Erlebnis werden würde. Dann, während mein lautes Klingeln die Stille durchdrang, fiel mir ein, dass ich zwar ein Geschenk für Hedda mitgebracht, aber nicht mehr an den Jungen gedacht hatte.
    Hedda öffnete die Tür und spähte furchtsam hinaus. Sie lächelte sofort, als sie mich erkannte, doch ihr Anblick verwirrte mich. Sie trug ein langes, schwarzes Samtkleid und hatte ihr Haar mit einem breiten, roten Band zurückgebunden, so als wollte sie mir verwandelt, in einer ganz anderen Rolle gegenübertreten.
    Verlegen und mit ein paar flauen Dankesworten für die Einladung trat ich ein; den kleinen Karton mit dem Füllfederhalter hielt ich wie eine Monstranz vor mich hin, und dann begann ich schmerzhaft zu ahnen, dass der Abend eher in einer Katastrophe enden würde. Hedda nahm mir mein Geschenk ab; sie lächelte verheißungsvoll, ihre Wangen waren gerötet, aber sie hatte überhaupt nicht vor, ihr Pfarrhaus für eine Spazierfahrt mit mir zu verlassen. Gerüche zogen durch das Haus, warme, heimelige Küchendüfte.
    »Ich hoffe, Sie mögen Fisch«, sagte Hedda wie eine gute Gastgeberin. »Ich habe frischen wilden Lachs, eine echte Seltenheit.«
    Ich nickte. Ich kam mir wie gefangen vor. Am liebsten hätte ich mich entschuldigt und wieder kehrtgemacht. Nur Heddas anmutige, rosige Hände boten mir Trost. Diese Hände kannte ich; sie waren mir nicht fremd.
    Ich folgte Hedda in ihr Wohnzimmer, ein Raum, der aussah, als wäre er ausschließlich für Bücher vorgesehen. Hohe Holzregale füllten die Wände. Auch eine Orgel oder ein Klavier entdeckte ich neben einem schmalen Ledersofa und einer filigranen Leselampe. Aber nirgends hing ein Kreuz oder eine Fotografie ihres toten Mannes.
    Der Junge saß schon am gedeckten Tisch und starrte vor sich hin. Zwei brennende Kerzen standen vor ihm. Er tat so, als würden ihn diese Kerzen ganz in Anspruch nehmen, so dass ihm keine Zeit blieb, mir auch nur einen flüchtigen Blick zuzuwerfen.
    »Mark möchte uns ein wenig Gesellschaft leisten«, erklärte Hedda, aber sie sagte es wie in einen leeren Raum hinein.
    »Ich habe Mark schon kennen gelernt«, sagte ich mit fremder Stimme vor mich hin. Ich verspürte wenig Lust, den netten Onkel zu spielen. Viel lieber hätte ich den Jungen genommen und ihn kräftig durchgeschüttelt. Niemand konnte etwas dafür, dass sein Vater tot war und sein Leben weggeworfen hatte.
    Hedda reichte mir ein Glas mit Sherry, und wir prosteten uns zu, und endlich rührte sich auch der Junge und schaute mich an. Ich kannte das Phänomen, dass Menschen sich kleiner machten, dass sie anderen durch ihre scheinbare Unterwürfigkeit ein schlechtes Gewissen bereiten und ihnen ein gewisses Quantum an Schuld zuschieben wollten. Niemals war ich auf ein solches Spielchen eingegangen. Der Blick des Jungen war aus hartem dunklem Stahl. Auch er versuchte mir ein schlechtes Gewissen zu machen, auch er gab mir die Schuld für alle Übel der Welt, ich war der Störenfried, der Rivale, doch er machte sich nicht klein dabei. Im Gegenteil, er war in seinemdüsteren Zorn viel größer als jeder elfjährige Junge, dem ich je begegnet war.
    Auch Hedda erschrak über diesen Blick, und wenn sie geglaubt hatte, der Abend mit ihrem Sohn werde einigermaßen harmonisch verlaufen, so musste sie zusehen, wie diese Hoffnung mit doppelter Schallgeschwindigkeit davonflog. Aufgeregt eilte sie in die Küche, um das Essen aus dem Backofen zu nehmen.
    Ich setzte mich dem Jungen gegenüber. Es würde ein anstrengender Abend werden.
    Während ich noch überlegte, ob ich zumindest den Schein wahren und ihm von Licht erzählen sollte, schaute mich der Junge erneut an. Sein Blick blieb dunkel und unerbittlich. »Damit Sie es wissen«, flüsterte er mir zu. »Ich will nicht, dass Sie hier sind. Ich will, dass Sie meine Mutter in Ruhe lassen.«
    »Verstanden«, entgegnete ich lächelnd. Er hatte meinen Kampfgeist angestachelt. »Aber deine Mutter hat mich eingeladen. Sie möchte am Abend vielleicht einmal etwas anderes sehen als dein

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