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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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jemand, der ständig fror, mitten im Dezember im See schwimmen? Weil es ohnehin keine Rolle spielte, bei welcher Temperatur er schier vor Kälte umkam?
    Über dem See stand die dünne Sichel des Mondes. Unsere bleichen, bläulichen Schatten schwebten wie Geister vor uns über das Eis. Auch Heddas Stimme klang geisterhaft, als würde sie in meinem Kopf entstehen.
    »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mehr weiter. Ich fürchte mich vor Marks Geburtstag, vor der Messe am Heiligen Abend, wenn die ganze Gemeinde stumm und vorwurfsvoll vor mir sitzen wird und ich ihre Gedanken lesen kann. Die meisten, die kommen, haben nur einen Gedanken. Sie wollen nur wissen, ob es meine Schuld war, dass Michael sich umgebracht hat.« Sie lachte voll stiller Furcht. »Ich könnte eine lange Liste mit Dingen machen, vor denen ich Angst habe.«
    »Ja«, sagte ich, »es gibt so viele Dinge, vor denen man Angst haben kann.«
    Für einen langen, stillen Moment war ich versucht, Hedda zu sagen, warum ich zum See gekommen war, aber dann sah ich ihr trauriges, nachdenkliches Gesicht.
    Ich weiß nicht, woran es lag, dass wir uns plötzlich küssten. Vielleicht lag es am silbernen Licht des Mondes, das sich über uns spannte, oder weil sich die zarten Federwolken unseres Atems verbanden. Hedda seufzte leise, als sichunsere Zungen berührten. Ihr Mund fühlte sich ganz klein und heiß an. Sie hatte die Augen geschlossen, und ich sah, dass ihre Lider zitterten, als träumte sie gerade einen schönen Traum.
    Wir küssten uns lange, und ich spürte, wie mein Herz sich verwandelte. Mit jedem Atemzug, der verstrich, wurde es mehr und mehr zu einem winzigen, wild flatternden Vogel.
    Schließlich lächelte Hedda mich an und umfasste meine linke Hand. Als ich etwas sagen wollte, legte sie mir sanft einen Finger auf die Lippen. Sie hatte Recht, das Schweigen tat uns gut. Wir liefen durch die Stille wie durch einen weiten, heiligen Raum. Das einzige Geräusch, das ich zu hören glaubte, war das heftige Pochen des winzigen Vogels in meiner Brust.
    Erst als wir ins Dorf zurückgekehrt waren, fanden wir unsere Sprache wieder. »Danke für den wunderschönen Abend«, sagte Hedda und rückte gleichzeitig wieder von mir ab. Klar, wenn sie ihren vielen Schwierigkeiten ein weiteres Problem hinzufügen wollte, dann musste sie lediglich dafür sorgen, in einer innigen Umarmung mit mir gesehen zu werden.
    Wir liefen um die dunkle Kirche herum auf meinen Wagen zu. Ich suchte nach den richtigen Worten für eine Einladung, die nur sie betraf und ihren Sohn auf möglichst elegante Weise ausschloss, als Hedda plötzlich stehen blieb. Eine Katze mit gelben Augen schlich über den Kirchplatz, an dem leuchtenden Weihnachtsbaum vorbei, aber nicht dieser Anblick hatte sie innehalten lassen. Mein grauer Mercedes stand vorschriftsmäßig geparkt an der Stelle, wo ich ihn zurückgelassen hatte, nur hatte er mächtig Schlagseite bekommen. Wie ein stählernes Schiff, dasin Seenot geraten war, sah der Wagen aus. Jemand hatte die Reifen auf der rechten Seite zerstochen oder zumindest die Luft abgelassen.
    »Holty, dieser Idiot«, flüsterte Hedda, »er will es dir heimzahlen.« Sie schaute mich an. Echte Entrüstung funkelte in ihren Augen.
    Ich schwieg. Es gefiel mir, dass sie mir das »Du« zugedacht hatte, aber natürlich war sie vollkommen auf dem Holzweg. Nicht Holty hatte den Wagen flachgelegt; es war ihr Sohn gewesen, der keineswegs sofort eingeschlafen war; niemand sonst.
    »Keine Tragödie«, erklärte ich mit matter Stimme und umarmte Hedda ein letztes Mal, was sie eher steif über sich ergehen ließ. »Morgen lasse ich zwei neue Räder aufziehen.«

19. Dezember
    Ochs mochte nicht besonders gut mit Menschen umgehen können, aber er roch jedes Unglück, sobald es nur einen Wagen betraf, der ihm anvertraut war. Ich war noch in der Dunkelheit aufgestanden, hatte Licht gefuttert und mich ins Dorf aufgemacht, um meinen Chauffeur bei einem ausgiebigen Frühstück die schlechte Nachricht beizubringen. Doch als ich ins Dorf kam, entdeckte ich schon von weitem, wie er um den grauen Mercedes herumlief, mit der Hand über den Lack strich und nach weiteren Schäden suchte.
    »Sie haben hier im Dorf nicht nur Freunde, Chef« sagte Ochs, nachdem ich herangekommen war. »Da hat jemandmindestens fünfmal mit einem Messer zugestochen. Ich habe schon die nächste Werkstatt verständigt. Es kann allerdings etwas dauern, bis sie jemanden mit zwei Ersatzreifen vorbeischicken.«
    Hedda ließ

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