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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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Geldschein zu viel in der Tasche hatten, glaubte er an die Allmacht des Geldes. Wenn man die richtige Summe auf den Tisch legte, ließ sich alles besorgen; dann ließen sich sogar hübsche, junge Mädchen dazu verleiten, mit einem älteren, schlecht gelaunten Mann wie mir einen Abend zu verbringen.
    Zwei Lastwagen fuhren langsam ins Dorf und parkten vor der Kirche. Der erste war eine Art rollende Sparkasse. Der Fahrer zog eine Jalousie auf und setzte sich hinter einen behelfsmäßigen Schalter, um drei Frauen zu bedienen, die schon eine Weile gewartet hatten. Der zweite Wagen gehörte zu einer Mercedes-Werkstatt, wie an dem überdimensionalen auflackierten Stern unschwer zu erkennen war.
    Ochs und ich zogen unsere Mäntel an und gingen hinaus. Die Sonne blendete mich, und auf dem Tannenbaum vor der Kirche begann der Schnee zu tauen. Die Luft war klar wie im Hochgebirge. Am liebsten hätte ich mich von Ochs verabschiedet und wäre erneut über den See gelaufen, solange das Eis noch nicht geschmolzen war. Mitten auf dem See würde die Sonne noch intensiver zu spüren sein, und der Himmel würde funkeln, als wäre er ein riesiger blauer Diamant.
    Es dauerte eine knappe halbe Stunde, dann hatte ein tüchtiger Monteur zwei neue Räder aufgezogen. Ochs hatte seinen Frieden wieder gefunden; stolz und aufrecht stand der Mercedes vor ihm. Immerhin war eine Sache wieder ins Lot gekommen.
    Als der Werkstattwagen wegfuhr, sah ich den Jungen. Er verließ das Pfarrhaus und schritt, ohne den Blick auf uns zu richten, über den Vorplatz. Anscheinend war er gar nicht in der Schule gewesen. Er wirkte nicht, als würde er mich fürchten und mir absichtlich aus dem Weg gehen, sondern machte vielmehr den Eindruck, als sähe er mich gar nicht. Die Menschen um ihn herum waren durchsichtig, aus Glas, wenn er es wollte. Mein Zorn nahm bedenkliche Ausmaße an. Ich hatte schon viele Gegner in meinem Leben gehabt, aber noch nie einen verrückten elfjährigen Jungen.
    »He, Mark«, wollte ich rufen, »ich werde deine Mutter nicht in Ruhe lassen, auch wenn du noch einmal meinen Wagen demolieren solltest. Ich kann außerdem nichts dafür, dass dein Vater sich ausgerechnet in meinem Haus umgebracht hat.«
    Irgendetwas hielt mich zurück, den Sohn der Pastorin anzuschreien. Ochs stand neben mir. Er hatte den Jungen ebenfalls bemerkt und schaute ihm neugierig nach. Wie ein Traumwandler schritt der Junge an der Kirche vorbei. Er hielt eine rote Rose in der Hand. Eine Trauer lag in seinem Blick, die jedem Betrachter den Hals zuschnüren musste. Wie sehr kann man einen geliebten Menschen vermissen? Nichts, sagte dieser Blick, nichts wird je dafür sorgen, dass diese Trauer vergeht. Ich bin diese Trauer; ohne sie existiere ich gar nicht mehr. Ich kannte diesen Blick, der gar nicht kindlich, sondern vollkommen alterslos war. Auch Ira hatte diese Finsternis vor sich hergetragen, wenn sie auf dem Friedhof an Martins Grab trat.
    Ochs und ich beobachteten, wie der Junge das Tor zum Friedhof öffnete und den Weg zum Grab seines Vaters hinunter lief. Dort legte er die Rose ab und kniete nieder. Lediglich sein schmaler Kopf war noch zu sehen.
    Meine Wut hatte sich aufgelöst. Ich hatte vier, fünf Sekunden nicht geatmet und rang nach Luft, bevor ich mich abwandte.
    »Ochs«, sagte ich und berührte meinen erstarrten Chauffeur an der Schulter, »ich lade Sie zu einem Kognak ein.«
    Der Himmel blieb winterlich klar, mit wenigen federleichten Wolken, die sich im endlosen Blau verteilten, doch mir hatte die Trauer des Jungen den Tag verdunkelt.Allein lief ich am See entlang und wagte mich nicht auf das Eis, auch wenn es längst noch nicht geschmolzen war. Ochs war in der Hotelpension zurückgeblieben, um auf Ira zu warten und das Personal anzuweisen, wie sie die hohen Gäste empfangen sollten. Ich hatte keinerlei Sehnsucht nach Ira. Im Gegenteil, meine Müdigkeit war zurückgekehrt. Sogar mein Knie schmerzte wieder. Ich würde es noch bis zum Haus schaffen, und dann … Ich wusste nicht, was ich dann tun würde: Kaffee trinken, mit Licht reden oder einfach nur aus dem Fenster starren.
    Mein Vater hätte niemals eine solche Schwäche gezeigt. Er hätte sich auf das Gespräch mit Grashoff vorbereitet, hätte sich eine Strategie zurechtgelegt, seine Chancen abgewogen. Er gehörte zu den Menschen, die ewig leben wollten, doch als er begriff, dass der Krebs seinen Körper zerstören würde, dass es auch für ihn den Tod gab, hatte er sein altes Leben wie einen Anzug

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