Das wird mein Jahr
»Prost«, sagte sie und ich grinste nur noch, wie ein Kind zur Weihnachtsbescherung. Was war der ganze Westen gegen diese schöne Frau? »Genau, Prost!«
Ich war schon am Überlegen, wann denn ein passender Augenblick sei, Anke zu küssen, um der ganzen Sache mit uns eine gewisse Verbindlichkeit zu geben, doch gerade da tauchte Katrin mit verweintem Gesicht vor uns auf. Mist, gerade jetzt! Anke ging ihr entgegen und nahm sie stumm in die Arme. Das würde bestimmt dauern.
Ich drückte Katrin vorsichtig meine halbvolle Bierflasche in die Hand und ging nach einer flüchtigen Verabschiedung zurück zum Zeltplatz. Die beiden Mädels brauchten offenbar noch ein bisschen Zeit miteinander.
Am Tag darauf lief ich mit Andi schweigend am Ufer entlang, zwischen all den dicht an dicht liegenden Urlaubern und kreischenden Kindern.
»Und du willst wirklich nicht mitkommen, Friedemann?«, fragte er mich nach einer Weile.
»Nee, lass mal. Ich trau den Gewehren der ungarischen Grenzer nicht. Russische Produktion. Außerdem, meine Eltern …, na ja, lassen wir das. Ich fahre mit Anke zurück.«
»Mensch, Kunde!« Andi sagte das nicht böse, mehr so kumpelhaft. »Weißt du noch, wie wir als Stifte auf diesen Garagendächern rumgeklettert sind?«
Ich überlegte. »Du meinst, als du durch die marode Dachpappe eingebrochen und direkt auf einem Lada gelandet bist?«
»Danke noch mal fürs Aus-der-Garage-Rausziehen und Nicht-Verpetzen.« Andi nickte mir zu. Dann schwiegen wir wieder. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse«, sagte er nach einer Weile, »aber das ist jetzt meine Chance, und die muss ich nutzen.« Ich blickte zu ihm rüber. Offenbar machte ich ein fragendes Gesicht, denn Andi fuhr fort: »Ehrlich, Friedemann, als wir in Leipzig losgefahren sind, wollte ich das noch nicht.«
»Ist schon gut, Andi. Wenn ich einen Bruder drüben hätte, wäre das für mich auch was anderes.« Ich klopfte Andi auf die Schulter, und er nickte stumm.
»Lass uns mal langsam zurückgehen«, sagte Andi, nachdem er auf seine Uhr geschaut hatte. Noch am Nachmittag wollten die beiden los.
»Ach so, noch was Wichtiges: Wenn das hier schief geht, kannst du das alles meiner Mutter erklären und dich ein bisschen um sie kümmern, nur die erste Zeit?«
»Klar, Andi, wie bei ›Timur und sein Trupp‹, kein Problem«, antwortete ich. Andi knuffte mich in die Seite.
Ganz beiläufig drückte er mir seinen Autoschlüssel in die Hand. »Du hast doch auch schon die Fleppen. Hier, schenk ich dir. Drüben kauf ich mir ’nen ordentlichen West-Schlitten, Mercedes oder so was.« Ich war stehen geblieben und schaute ihn entgeistert an. Andi sagte: »Bring du mal Anke gut nach Hause. Den rechtlichen Kram mit dem Warti klärst du mit meiner Mutter, okay?«
»Danke, Andi, Mann!« Ich hielt den abgegriffenen Schlüssel in der Hand, an dem ein noch abgewetzterer Brillenschlumpf-Anhänger baumelte und schaute Andi ins Gesicht.
Wenig später liefen wir zum Hotel, vor dem Jens auf einem Parkplatz in seinem Mercedes wartete. Er hatte es für unauffälliger befunden, Andi und Katrin nicht direkt am Zeltplatz abzuholen. Die beiden Mädels liefen eingehenkelt und verdrückten sich immer wieder die Tränen. Auch Andi sagte kein Wort. So überschwänglich unsere Begrüßung mit Jens gewesen war, so traurig war nun unsere Verabschiedung. Nur meine selbstauferlegte Coolness hinderte mich daran, nicht auch gleich loszuheulen.
»Kunde, komm bald nach«, flüsterte Andi mir ins Ohr, als wir uns zum Abschied umarmten.
»Ich überleg’s mir.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Als die drei losfuhren und ich mit Anke am Straßenrand zurückblieb und ihnen hinterherwinkte, nahm sie meine Hand, und beide schauten wir dem Wagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Schweigend gingen wir zurück zum Zeltplatz.
Die Grillen zirpten immer noch. Anke und ich saßen auf derselben Bank, auf der Andi uns gestern alles gebeichtet hatte. Nun war er schon seit einem halben Tag weg.
Ich war verliebt – und ich war unglücklich. Andi, mein Kumpel, mit dem ich in den letzten Jahren jede freie Minute verbracht hatte, geht rüber, und ich schaffe es nicht mitzugehen! Dabei wollten wir die coolste Band überhaupt sein. Jedes Wochenende hatte ich in den letzten drei Jahren mit Andi die Discos in Leipzig unsicher gemacht und seit Wochen im Proberaum gestanden, um mit ihm Schlagzeug zu üben. Das war nun vorbei. Nun wusste ich, wie sich Andi gefühlt haben musste, als damals sein Bruder
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