Das wird mein Jahr
mit dem Rad die zwanzig Minuten in die Gärtnerei nach Hartmannsdorf amsüdwestlichen Stadtrand, bei der ich die letzten zwei Jahre Lehrling gewesen war und nun seit Mitte Juli eine Festanstellung bekommen hatte. Ich wollte nicht mit dem Warti vorfahren, um keine lästigen Fragen beantworten zu müssen. Heute wartete eine Menge Arbeit auf uns, denn ab August machten wir die gerade blühenden Eriken für den Versand fertig. Das hieß, dass wir in den folgenden Wochen pausenlos diese Blumen einzeln vermessen und entsprechend der Größe nach sortieren mussten – für den Export in das »nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet«, also nach drüben.
Als ich auf dem Hof der Gärtnerei einbog, wartete bereits ein LKW mit westdeutschem Nummernschild. Direkt neben der geöffneten Ladetür standen drei Beamte vom DDR-Zoll und passten wie immer auf, dass keiner von uns Gärtnern sich in einer Blumenkiste versteckt in den Wagen schmuggelte, denn die LKWs wurden noch hier verplombt und gingen danach sofort auf Transport in den Westen. Unter den Gärtnern kursierte die Geschichte, dass vor einigen Jahren mal ein früherer Kollege stockbesoffen versucht hatte, auf den LKW zu klettern. Er schrie die Zöllner an: »Ich heiße Erika! Ich bin eine Blume! Ich muss da mit!« Es folgte eine Schlägerei mit den Typen vom Zoll, und danach war Kollege Erika von der Polizei abgeholt worden. Man erzählte unter vorgehaltener Hand, dass er aufgrund der Aktion wegen versuchter Republikflucht verknackt worden war. Aber keiner wusste Genaueres, weil niemand ihn wiedergesehen hatte.
Ich überlegte mir den ganzen Vormittag beim Tragen der Kisten, ob Andi ein paar Tage später irgendwo in Stuttgartmeine Eriken kaufen würde. Aber Andi und Blumen, na ja … Theoretisch wäre es jedenfalls möglich gewesen.
Die Entscheidung Gärtner zu lernen, hatte ich natürlich nicht nur wegen meines albernen Nachnamens gefällt. Aber alle umliegenden Betriebe im Südwesten der Stadt hatten irgendwas mit Metall und Maschinen zu tun, und das war mir zu laut, zu dunkel und zu dreckig. Mit etwa zehn Jahren hatte ich mir überlegt, später mal aufs Dorf zu ziehen. Ich stellte mir in meiner kindlichen Fantasie das Leben auf einem Bauernhof unglaublich schön vor. Ein paar Tiere, ein alter Traktor und ein großer Gemüsegarten. Mit den Jahren verblassten diese Vorstellungen in meinem Kopf und wichen Wichtigerem: Musik und Mädchen.
Aber Gärtner sein, das stellte ich mir gut vor. Ein Handwerk mit dem man immer etwas anfangen könnte. Und wenn ich später Gitarrist in einer berühmten Band sein würde, machte sich das bestimmt gut im Lebenslauf. Das hatte was Romantisches und gefiel den Mädels bestimmt. Ja, ich mochte meinen Job, denn es gab beschissenere. Aber noch mehr mochte ich meine Freizeit.
Nach einer Woche Urlaub war ich soviel Schufterei kaum noch gewohnt. Darum blieb ich abends zu Hause und schaute mir im West-Fernsehen die Nachrichten an. Meistens ging es um junge Zonis, die über die ungarischösterreichische Grenze abgehauen waren. Hunderten sollte es schon geglückt sein. Ich überlegte, bei Anke anzurufen. Aber ich tat es nicht. Ich hatte in Ungarn ihr gegenüber schon zu viel von meinen Gefühlen preisgegeben und befürchtete, wie ein Schoßhündchen gewirkt zu haben. Nunkonnte ich nur punkten, wenn Anke den nächsten Schritt machen musste. Doch der ließ auf sich warten.
Freitagabend klingelte endlich das Telefon, kurz bevor ich in die Rakete aufbrechen wollte.
»Hallo, ich bin’s.«
Ich erkannte ihre Stimme sofort und versuchte, so freundlich wie nur möglich zu klingen. »Hallo, schöne Frau. Wie geht’s?«, antwortete ich. »Ich habe noch deine The-Cure-Kassette. Bist du heute Abend in der Rakete, dann kann ich sie mitbringen?« Der Zuckerguss auf meinen Sätzen tropfte förmlich in den Telefonhörer.
»Wahrscheinlich eher nicht. Ich … ich bin ein wenig erkältet, sicher die Nacht draußen vorm Zelt.«
»Ach so.« Ich sagte nichts weiter und schloss die Augen, und ihr ebenmäßiges Gesicht tauchte in Gedanken vor mir auf, so wie es aussah, als wir auf der Bank saßen und ich ihre Wange gestreichelt hatte.
»Friedemann?«, fragte Anke in den Hörer, und ich fuhr aus meinen Gedanken wieder auf. Vor unserem Ungarntrip hatte sie mich immer nur Blume genannt, und nun sprach sie mich plötzlich mit meinem Vornamen an. Das hatte irgendwas Intimeres, fand ich. »Friedemann?«, fragte sie noch mal.
»Ja? Ich bin noch da«, sagte ich.
»Danke,
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