Das wird mein Jahr
Brücke über einen breiten Fluss auf der Suche nach dem Hauptbahnhof. Hin und wieder tauchte das Symbol einer U-Bahnstation am Straßenrand auf. Cool – so was kannte ich nur aus Ost-Berlin. Dann sah ich endlich das Schild mit einer überdachten Lokomotive. Aus einem Tunnel kam ich auf eine sechsspurige Piste, wie eine Autobahn mitten in der Stadt. Neben und vor mir nur West-Autos, keine Trabbis oder Ladas. Endlich passierte ich ein großes Gebäude, das einem Bahnhof ähnelte. Nichts war hier wie in Leipzig. Ich war in einem anderen Land, in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten – das stand fest. Müde steuerte ich auf den Parkplatz. Meine Augen schmerzten von den ganzen Farben, die ich bisher nur im Halbdunkel gesehen hatte. Wie würde die Stadt erst bei Tageslicht aussehen?
Ich suchte die nächste Telefonzelle, um Andi anzurufen. Danach setzte ich mich wieder in den Warti und schlief sofort ein.
Von einem lautstarken Klopfen aufs Autodach wurde ich geweckt. Erschrocken fuhr ich hoch. Andi grinste. »Mensch, Friedemann, alter Kunde!« Nachdem ich ausgestiegen war, legte er mir eine Hand auf die Schulter. »Willkommen im Westen!«
Irgendwas war anders an ihm. Ach ja, Andi trug einen Fassonschnitt. »Wo ist denn dein Strubbelkopf hin?«, fragte ich ihn.
»Tja, ich bin jetzt in der Autobranche, und da muss man auf ein gepflegtes Äußeres achten. Die Kunden kaufen doch einem Punk kein Auto ab.« Ich schaute zu seinem Wagen rüber, der neben dem Warti parkte. Andi fuhr zwar noch nicht den angekündigten Mercedes, aber der kleine dunkelblaue Ford Fiesta älteren Baujahres sah auch schon ganz gut aus. »Ist nur vorübergehend, bis mein Mercedes eingetroffen ist«, erklärte Andi. »Ja, auch im Westen muss man manchmal auf sein Wunschauto warten. Nur nicht so lange wie drüben in der Zone. Los, komm erst mal zu uns nach Hause. Fahr mir einfach hinterher.«
Andi bewohnte mit Katrin eine kleine Zweiraumwohnung in Stuttgart-Süd. Am Klingelbrett las ich exotische Nachnamen. »Ö… Ötz…demir? Wie spricht man denn das aus?«, fragte ich Andi.
»Keine Ahnung, das sind Türken. Überhaupt wohnen hier viele Ausländer, die arbeiten alle bei Daimler. Komm jetzt.«
Wir stiegen die Treppe hoch in den ersten Stock. Es roch nach Kaffee und Putzmittel, fast wie im Intershop. Andi schloss die Wohnungstür auf, und wir traten ein. In der kleinen weiß gestrichenen Küche standen ein Herd, eine Spüle und ein Tisch mit drei Stühlen. Auf einem saß Katrin und rauchte ihre Frühstückszigarette. »Hi Blume. Willkommen in der Freiheit«, grüßte sie verschlafen. »Kaffee?«
Ich nickte. Ist das wirklich alles wahr? Ich nahm ein Marmeladenglas in die Hand und betrachtete das Etikett. Wie bunt das war. Nur »beste, ausgesuchte Zutaten« wurden darauf versprochen. Der auf dem Tisch platzierte Toaster klickte, und zwei Weißbrotscheiben hüpften heraus. »Schön habt ihr es hier«, sagte ich, mich umblickend. »Und wie sieht es mit Arbeit aus?«
»Ich bin bei meinem Bruder mit im Autohaus, und Katrin hat einen Job als Verkäuferin in einem Supermarkt. Du siehst, Friedemann: Es läuft! Eigener Wagen, eigene Wohnung, eigenes West-Geld – alles wahr geworden.« Andi grinste zufrieden, während er in sein Toastbrot biss.
Da saßen wir nun zusammen, immerhin schon zu dritt. The Innocent Disco war fast wieder komplett. Fehlte nur noch Anke. Natürlich hatte ich in den letzten Stunden auf der Autobahn darüber nachgedacht, dass ich nun im selben Land wie sie war. Aber ich rechnete mir keine Chancen aus, sie irgendwo zufällig zu treffen. Hier wohnten schließlich ein paar Millionen Menschen. Außerdem war ich fertig mit ihr. Das Thema war abgeschlossen. Endgültig. Vergangenheit. Vorbei.
»Habt ihr mal was von Anke gehört?«, fragte ich ganznebenbei. »Sie ist eine Woche nach euch mit ihren Eltern rüber.«
»Ja, stimmt. Meine Mutter hatte mir davon am Telefon erzählt«, antwortete Katrin. »Aber gehört hab ich noch nichts von ihr. Keine Ahnung, wo sie steckt.«
Andi blickte zu mir rüber. Er schien mein Problem zu erahnen und gab mir einen Knuff. »Schwamm drüber, Friedemann. Jetzt geht ein neues Leben los.«
Ich nickte ihm müde zu und trank von meinem Kaffee, den mir Katrin eingegossen hatte. »Der ist gut«, sagte ich nach dem ersten Schluck. »Ist das etwa die ›Krönung‹?« Ich hatte vor Jahren in einer Werbung im West-Fernsehen gesehen, wie zwei Frauen mit gepflegter Dauerwelle in einem sonnigen
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