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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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geschah, war beinahe unwiderstehlich.
    Lange Zeit verging, ohne daß ich an irgend etwas dachte. Dann hörte ich den Vogelpfiff von Senor Acosta und nahm an, der König der Geier kreise über mir. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich das Schlagen großer Schwingen hörte. Plötzlich begann der Kadaver zu schaukeln, als würde er von einem Sturm gepackt. Ich spürte etwas Schweres auf dem Esel. Da wusste ich, der König der Geier hatte sich auf dem Kadaver niedergelassen. Der tote Esel bewegte sich nicht mehr. Ich spürte das Gewicht und hörte das Schlagen anderer Schwingen und schließlich Senor Acostas zweiten Pfiff aus der Ferne. Ich bereitete mich auf das Unvermeidliche vor. Der tote Esel schwankte wieder, als etwas begann, das Fell aufzureißen.
    Plötzlich erschien ein riesiger häßlicher roter Kopf mit einem roten Kamm, einem riesigen Schnabel und einem scharf blickenden offenen Auge. Ich schrie vor Angst laut auf und packte den Geier mit beiden Händen am Hals. Ich glaube, die Verblüffung lahmte den König der Geier einen Augenblick lang, denn er wehrte sich nicht, und ich konnte den Hals besser umfassen. Aber dann brach die Hölle los. Er war nicht mehr gelähmt und begann mit solcher Macht, den Kopf zurückzuziehen, daß ich gegen das Gestell gepreßt wurde. Im nächsten Augenblick hatte er mich mitsamt den Stöcken halb aus dem Kadaver gezerrt. Ich klammerte mich an den Hals, denn es ging um mein Leben.
    Ich hörte von weitem die galoppierenden Pferde und Senor Acosta, der rief: »Laß los, Junge! Laß los, sonst fliegt er mit dir davon!« Der König der Geier wollte in der Tat mit mir davonfliegen, während ich seinen Hals umklammerte, oder er wollte mich mit seinen Krallen zerreißen. Er konnte mir jedoch nichts anhaben, weil sein Kopf halb in den Innereien und den Stöcken hing. Die Krallen fanden in den schleimigen Eingeweiden keinen Halt und berührten mich nicht. Der Geier versuchte mit ganzer Kraft, sich meinem Griff zu entwinden. Er konnte die Krallen deshalb nicht weit genug nach vorne bringen, um mich zu verletzen. Dann landete Senor Acosta auf dem Geier und zwar genau in dem Augenblick, als mir die Lederhandschuhe von den Händen rutschten. M Senor Acosta war außer sich vor Freude. »Wir haben es geschafft, mein Junge! Wir haben es geschafft!« rief er. »Das nächste Mal werden wir dafür sorgen, daß dich der Geier nicht herausziehen kann. Und wir werden dich an den Stöcken festbinden.«
    Meine Freundschaft mit Senor Acosta hatte lange genug gedauert, um für ihn einen Geier zu fangen. Dann schwand mein Interesse für ihn auf ebenso mysteriöse Weise, wie es aufgetaucht war. Ich hatte nie wirklich Gelegenheit, ihm für alles zu danken, was ich bei ihm gelernt hatte.
    Don Juan sagte, er habe mich die Geduld des Jägers gelehrt, und zwar zu der Zeit, wo man das am besten lerne. Aber vor allem habe er mir beigebracht, aus dem Alleinsein so viel Wohlgefühl zu ziehen, wie ein Jäger brauche. »Du darfst das Alleinsein nicht mit Einsamkeit verwechseln«, hatte mir Don Juan einmal erklärt. »Einsamkeit ist für mich etwas Psychologisches und kommt vom Bewusstsein. Das Alleinsein ist etwas Körperliches. Das eine schwächt, das andere ist wohltuend.« Für all das, so hatte Don Juan gesagt, stand ich auf ewig in Senor Acostas Schuld, gleichgültig ob ich Schuld in der Art verstand, wie Wanderer-Krieger es tun, oder nicht.
    Der zweite Mensch, dem ich Don Juan zufolge Dank schuldete, war ein zehnjähriger Junge, den ich in meiner Kindheit kannte. Er hieß Armando Velez. Wie sein Name sagt, verhielt er sich äußerst würdevoll, steif und wie ein kleiner alter Mann. Ich mochte ihn sehr, denn er ließ sich durch nichts erschüttern, war aber trotzdem freundlich. Man konnte ihn nur schwer einschüchtern. Er war jederzeit zu einem Kampf bereit, aber keineswegs ein Schlägertyp.
    Wir beide gingen oft zum Fischen. Wir fingen sehr kleine Fische, die unter Steinen im Wasser standen und mit der Hand gefangen werden mussten. Die gefangenen winzigen Fische legten wir in die Sonne zum Trocknen und aßen sie dann roh - manchmal einen ganzen Tag lang. Mir gefiel, daß mein Freund erfinderisch, klug und sehr geschickt war. Er konnte mit der linken Hand einen Stein weiter werfen als mit der rechten. Wir spielten ständig Wettkampfspiele, die er zu meinem größten Verdruß stets gewann. Nach einem Sieg sagte er quasi als Entschuldigung: »Wenn ich mich zurückhalte und dich absichtlich gewinnen lasse, dann

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