Das Wirken der Unendlichkeit
hinter uns geschlossen hatte, begrüßte sie Eddie in schrecklich gebrochenem Englisch. „ W »Hallo, Eddie! Du Freund mitgebracht, wie?« Eddie nahm ihre Hand und küßte sie weltmännisch. Er schien völlig gelassen zu sein, aber mir entgingen nicht die unbewussten Bewegungen, die seine Nervosität verrieten.
»Wie geht es, Madame Ludmilla?« fragte er und versuchte dabei erfolglos, wie ein Amerikaner zu reden.
Ich habe nie herausgefunden, warum Eddie in diesen halbseidenen Häusern immer für einen Amerikaner gehalten werden wollte. Ich hatte den Verdacht, er tat es, weil Amerikaner im Ruf standen, reich zu sein, und er wollte bei diesen Leuten als ein reicher Mann gelten.
Eddie sah mich an und sagte mit seinem schlecht imitierten amerikanischen Akzent: »Ich lasse dich in guten Händen, Kleiner.«
Seine Worte klangen so absurd unnatürlich, daß ich laut auflachte. Madame Ludmilla schien von meinem Gelächter keineswegs beunruhigt zu sein. Eddie küßte ihr noch einmal die Hand und verließ uns. »Verstehst du Englisch, my boy!« rief sie so laut, als sei ich taub. »Du siehst eher wie Ägypter oder vielleicht wie Türke aus.«
Ich versicherte Madame Ludmilla, ich sei weder das eine noch das andere, und beteuerte, Englisch zu verstehen. Dann wollte sie von mir wissen, ob ich ihren >Tanz vor dem Spiegel< zu sehen wünsche. Ich wusste darauf keine Antwort und nickte nur zustimmend mit dem Kopf. »Du bekommst gute Show«, versprach sie. »>Der Tanz vor dem Spiegel< ist nur Vorspiel. Wenn du scharf und soweit bist, sag’s mir, und ich hör auf.« Wir gingen von dem kleinen Flur in ein dunkles, gespenstisches Zimmer. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge. An der Wand brannten ein paar schwache Glühbirnen. Die Birnen hatten die Form von Röhren, die im rechten Winkel aus der Wand ragten. Im Raum befanden sich viele Gegenstände - Möbel wie zum Beispiel kleine Kommoden, antike Tische und Stühle. Ein Rollpult stand an der Wand. Darauf türmten sich Papier, Stifte, Lineale und mindestens ein Dutzend Scheren. Madame Ludmilla ließ mich auf einem gepolsterten Stuhl Platz nehmen.
»Das Bett steht im Nebenzimmer, Kleiner«, sagte sie und deutete auf die andere Seite des Raums. »Dies hier ist meine Antisala . Hier tanze ich für dich, damit du scharf wirst und dann bereit bist.«
Sie ließ den Morgenmantel fallen, entledigte sich der Pantoffeln und öffnete die Doppeltüren von zwei Kleiderschränken. Auf der Innenseite jeder Schranktür befand sich ein bodenlanger Spiegel. »Und jetzt noch die Musik, Kleiner«, sagte Madame Ludmilla und drehte die Kurbel eines Grammophons, das funkelnagelneu aussah und entsprechend glänzte. Sie legte eine Schallplatte auf. Die quäkende Musik erinnerte mich an einen Zirkusmarsch. »Jetzt kommt meine Show«, verkündete sie und begann, sich zur Begleitung der quäkenden Musik zu drehen. Madame Ludmilla hatte trotz ihres Alters eine weitgehend straffe und ungewöhnlich weiße Haut. Sie musste Ende Vierzig sein. Ihr Bauch war zwar nicht sehr schlaff, aber doch ein wenig, und das waren auch die üppigen Brüste. Sie hatte Hängebacken und Falten im Gesicht sowie eine kleine Nase und stark geschminkte rote Lippen. Wimpern und Brauen waren dick schwarzgetuscht. Sie wirkte wie der Inbegriff der alternden Prostituierten. Trotzdem hatte sie etwas Kindliches, eine mädchenhafte Unbekümmertheit, naives Vertrauen und etwas Liebenswertes, das mich rührte. »Und jetzt der >Tanz vor dem Spiegel<«, verkündete Madame Ludmilla zu den Klängen der Musik. »Bein! Bein! Bein!« rief sie und warf im Rhythmus der Musik erst ein Bein und dann das andere hoch in die Luft. Sie hatte die rechte Hand auf den Kopf gelegt wie ein kleines Mädchen, das nicht sicher ist, ob es die Bewegungen beherrscht.
»Drehen! Drehen! Drehen!« rief sie und drehte sich auf der Fußspitze.
»Po! Po! Po!« rief sie danach und zeigte mir wie eine Cancan-Tänzerin ihren nackten Hintern. Sie wiederholte diese Bewegungen immer wieder, bis die Musik verklang, als die Feder des Grammophons nicht mehr genug gespannt war. Als die Musik zu spielen aufhörte, hatte ich das Gefühl, Madame Ludmilla entferne sich immer weiter und werde kleiner und kleiner. Eine Verzweiflung und Einsamkeit, von deren Vorhandensein ich nichts geahnt hatte, stieg aus den Tiefen meines Wesens an die Oberfläche und trieb mich dazu, aufzustehen und aus dem Zimmer zu laufen. Ich rannte wie ein Verrückter die Treppe hinunter, aus dem Haus und auf die
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