Das Wirken der Unendlichkeit
sie vor allen Fremden geheimhalten.
»Machen Sie etwas Sinnvolles«, riet er mir. »Beschäftigen Sie sich mit städtischer Anthropologie. Es stehen viele Gelder für Forschungsprojekte zur Verfügung, zum Beispiel über Alkoholismus der Indianer in Großstädten. Auf diesem Gebiet kann sich ein Anthropologe leicht die Sporen verdienen. Gehen Sie in eine Bar und besaufen Sie sich mit den Indianern, die dort herumlungern. Dann stellen Sie alles, was Sie über diese Leute herausfinden, in Statistiken zusammen. Ihre Ergebnisse müssen in Zahlen aufgearbeitet werden. Glauben Sie mir, städtische Anthropologie ist ein echtes Arbeitsgebiet!«
Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Rat dieser erfahrenen Sozialwissenschaftler anzunehmen. Ich beschloß, nach Los Angeles zurückzufliegen. Aber ein anderer befreundeter Anthropologe ließ mich wissen, daß er kreuz und quer durch Arizona und New Mexico fahren werde, um alle jene Orte aufzusuchen, an denen er in der Vergangenheit gearbeitet hatte. Er wollte auf diese Weise seine Beziehung zu den Menschen, die seine anthropologischen Informanten gewesen waren, wieder auffrischen.
»Du kannst mich gerne begleiten«, sagte er. »Ich habe nicht vor, auf der Fahrt zu arbeiten. Ich möchte die Leute nur besuchen, etwas mit ihnen trinken und mich mit ihnen unterhalten. Ich habe Geschenke für sie - Decken, Alkohol, Jacken, Munition für 22-Kaliber-Gewehre. Mein Wagen ist vollgeladen mit Geschenken.
Normalerweise fahre ich allein, wenn ich sie besuche, aber auf der langen Fahrt besteht die Gefahr, daß ich am Steuer einschlafe. Du könntest mir Gesellschaft leisten, mich am Einschlafen hindern und hin und wieder auch fahren, wenn ich zu betrunken bin.«
Ich war so niedergeschlagen, daß ich den Vorschlag ablehnte.
»Tut mir leid, Bill«, sagte ich. »Die Fahrt ist nicht das Richtige für mich. Ich sehe keinen Sinn darin, meine Idee von der Feldarbeit länger zu verfolgen.«
»Gib nicht einfach auf«, erwiderte Bill im Ton väterlicher Anteilnahme. »Du musst mit all deinen Kräften kämpfen, und wenn du wirklich die Nase voll hast, dann ist es in Ordnung aufzugeben - nicht früher. Komm mit und sieh selbst, ob dir der Südwesten gefällt.«
Er legte mir den Arm um die Schulter, und ich stellte unwillkürlich fest, wie unglaublich schwer sein Arm war. Bill war groß und kräftig, aber in den letzten Jahren war sein Körper seltsam steif geworden. Er hatte seine Jugendlichkeit verloren. Das runde Gesicht war nicht mehr wie früher jung und voll. Er hatte jetzt ein sorgenvolles Gesicht. Ich dachte, er mache sich Sorgen, weil ihm die Haare ausfielen. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, es war nicht nur das, was ihm auf der Seele lag. Er war nicht dicker geworden. Sein Körper wirkte jedoch auf eine Weise schwer, die man nicht erklären konnte. Es fiel mir beim Gehen auf, beim Aufstehen und beim Hinsetzen. Bill schien mit jeder Faser seines Wesens und bei allem, was er tat, gegen die Schwerkraft anzukämpfen.
Ungeachtet meines Gefühls der Niederlage begleitete ich ihn auf der Reise. Wir besuchten jeden Ort in Arizona und New Mexico, wo es Indianer gab. Ein Ergebnis dieser Fahrt war die Erkenntnis, daß mein Freund, der Anthropologe, zwei Seiten hatte. Er erklärte mir, er vertrete als Anthropologe einen sehr gemäßigten Standpunkt und stimme mit dem anthropologischen Denken unserer Zeit überein. Aber als Mensch hatte er durch seine anthropologische Feldarbeit einen Schatz an Erfahrungen gewonnen, über die er nie sprach. Diese Erfahrungen standen nicht im Einklang mit dem anthropologischen Denken der Zeit, denn es ging dabei um Ereignisse, die sich unmöglich wissenschaftlich einordnen ließen.
Im Verlauf unserer Reise geschah es immer wieder, daß er mit seinen ehemaligen Informanten ein paar Gläser trank und sich anschließend sehr entspannt fühlte. Ich setzte mich dann ans Steuer und fuhr, während er auf dem Beifahrersitz saß und dreißigjährigen Ballantines Whisky aus der Flasche trank. Dann erzählte Bill von seinen wissenschaftlich nicht einzuordnenden Erlebnissen.
»Ich habe nie an Geister geglaubt«, sagte er eines Tages unvermittelt. »Ich habe mich nie für Erscheinungen, schwebende Wesenheiten oder Stimmen in der Dunkelheit interessiert. Ich hatte eine sehr pragmatische und ernsthafte Kindheit. Die Wissenschaft ist immer mein Kompaß gewesen. Aber bei der Feldarbeit begann sich alles mögliche verrückte Zeug bei mir festzusetzen. Eines Nachts begleitete
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