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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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wusste ich darauf keine Antwort. Ich hätte damals nicht mehr darüber sagen können, als daß Bills Geschichten über Schamanen eine unbekannte Ebene in mir ansprachen, die nichts mit dem Verstand zu tun hatte. Auf dieser Fahrt kam ich auch zu der Erkenntnis, daß die indianischen Gemeinschaften im Südwesten in der Tat geschlossene Gesellschaften waren. Ich musste mir schließlich eingestehen, daß ich sehr viel wissenschaftliche Vorbereitung auf dem Gebiet der Anthropologie brauchte und daß es zweckmäßiger war, anthropologische Feldarbeit auf einem mir vertrauten Gebiet zu machen oder in einem Bereich, wo es einen wissenschaftlichen Einstieg gab.
    Am Ende der Reise brachte mich Bill zum Busbahnhof in Nogales, Arizona. Von dort wollte ich mit dem Greyhound nach Los Angeles zurückfahren. Während wir in der Wartehalle auf den Bus warteten, tröstete er mich väterlich. Er erinnerte mich daran, daß Niederlagen bei anthropologischer Feldarbeit an der Tagesordnung waren und nur dazu führten, daß man sein Ziel noch fester ins Auge faßte oder daß man als Anthropologe reifer wurde.
    Plötzlich beugte er sich vor und deutete mit dem Kinn zur anderen Seite des Raums. »Ich glaube, auf der Bank dort drüben in der Ecke sitzt der alte Mann, von dem ich dir erzählt habe«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ich bin mir nicht ganz sicher, denn ich habe ihn nur einmal gesehen.«
    »Welcher Mann? Was hast du mir von ihm erzählt?« fragte ich.
    »Als ich von Schamanen und den Verwandlungen von Schamanen sprach, habe ich dir erzählt, daß ich einmal einem Wolken-Schamanen begegnet bin.« »Ja, ja, ich erinnere mich«, sagte ich. »Ist der Mann dort der Wolken-Schamane?«
    »Nein«, antwortete er mit Bestimmtheit. »Aber ich glaube, er ist ein Gefährte oder ein Lehrer des Wolken-Schamanen. Ich habe beide vor vielen Jahren aus der Ferne mehrmals zusammen gesehen.« Ich erinnerte mich, daß Bill unter anderem, aber nicht in Zusammenhang mit dem Wolken-Schamanen erwähnt hatte, ihm sei bekannt, daß es einen geheimnisvollen Schamanen gebe, der sich von der Welt zurückgezogen habe. Es handle sich um einen alten Indianer aus Yuma, einen Einzelgänger, der früher ein gefährlicher Zauberer gewesen sei. Mein Freund hatte nie über eine Beziehung des alten Zauberers zu dem Wolken-Schamanen gesprochen, aber offenbar hielt Bill das für so selbstverständlich, daß er glaubte, er habe mir auch das erzählt. Mich erfaßte plötzlich eine seltsame Unruhe, und ich sprang auf. Ich schien keinen eigenen Willen mehr zu haben. Ich näherte mich dem alten Mann und erzählte ihm sofort in aller Ausführlichkeit, daß ich viel über Heilpflanzen wisse und über Schamanismus bei den amerikanischen PrärieIndianern und ihren sibirischen Vorfahren. Als nächstes sagte ich dem alten Mann, mir sei bekannt, daß er ein Schamane sei. Ich schloß meine Rede mit der Versicherung, es sei für ihn bestimmt von großem Nutzen, sich mit mir in aller Ausführlichkeit zu unterhalten.
    »Und wenn schon nichts anderes dabei herauskommt«, erklärte ich kühn. »Dann können wir wenigstens Geschichten austauschen. Du erzählst mir deine Geschichten, und ich erzähle dir meine.«
    Der alte Mann hielt bis zum letzten Moment den Blick gesenkt. Dann sah er mich an. »Ich bin Juan Matus«, sagte er und blickte mir direkt in die Augen. Ich war mit meiner Rede keineswegs zu Ende, aber aus einem unerfindlichen Grund spürte ich, daß ich nichts mehr zu sagen hatte. Ich wollte ihm meinen Namen nennen. Er hob die Hand bis in Höhe meiner Lippen, als wolle er mich daran hindern.
    In diesem Augenblick hielt ein Bus an der Haltestelle. Der alte Mann murmelte, das sei der Bus, auf den er gewartet habe, und forderte mich dann ernsthaft auf, ihn zu besuchen, damit wir in Ruhe miteinander reden und Geschichten austauschen könnten. Bei diesen Worten verzog er spöttisch den Mund. Mit unglaublicher Behendigkeit für einen Mann in seinem Alter - ich hielt ihn für über achtzig - legte er die etwa fünfzig Meter von der Bank, auf der er gesessen hatte, bis zum Bus zurück. Es hatte beinahe den Anschein, als hätte der Bus nur angehalten, damit er einsteigen konnte, denn sobald er sich im Bus befand, schloß der Fahrer die Tür und fuhr davon.
    Nachdem der alte Mann gegangen war, kehrte ich zu der Bank zurück, auf der Bill saß.
    »Was hat er gesagt? Was hat er gesagt?« fragte mein Freund aufgeregt.
    »Er hat mich aufgefordert, ihn in seinem Haus zu besuchen«, erwiderte ich.

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