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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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an, als habe er mir auf den Rücken geschlagen, obwohl er mich in Wirklichkeit nicht berührt hatte. Sein quasi-Schlag rief eine eigenartige flüchtige Empfindung in mir hervor, die sehr stark war, aber sofort wieder verschwand, bevor ich Zeit hatte zu begreifen, um welche Art Empfindung es sich handelte. Statt dessen erfüllte mich ein seltsamer Friede. Ich fühlte mich wohl. Mein Bewusstsein war kristallklar. Ich hatte keine Erwartungen und keine Wünsche. Die übliche Nervosität und die schweißnassen Hände, Kennzeichen meines Daseins, waren plötzlich verschwunden.
    »Jetzt wirst du alles verstehen, was ich dir sagen werde.« Don Juan sah mir in die Augen wie damals im Busbahnhof.
    Normalerweise hätte ich seine Feststellung als nichtssagend, vielleicht als rhetorische Floskel empfunden, aber nach seinen Worten konnte ich ihm nur aufrichtig und wiederholt versichern, ich würde alles verstehen, was er zu mir sagen werde. Er sah mir wieder mit bohrender Intensität in die Augen.
    »Ich bin Juan Matus«, sagte er und setzte sich mir gegenüber auf eine andere Kiste, die nicht weit entfernt stand. »Das ist mein Name. Ich spreche ihn aus, weil ich damit für dich eine Brücke schaffe, über die du zu mir kommen kannst.«
    Er sah mich einen Augenblick lang an und sprach dann weiter. »Ich bin ein Zauberer«, fuhr er fort. »Ich stehe in einer Tradition von Zauberern, die siebenundzwanzig Generationen umfaßt. Ich bin der Nagual meiner Generation.«
    Er erklärte mir, daß der Anführer einer Gruppe von Zauberern Nagual genannt wurde. Es war ein Begriff, der in jeder Generation einen Zauberer mit einer bestimmten energetischen Struktur bezeichnete, die ihn von den anderen unterschied - nicht im Sinn von Überlegenheit oder Unterlegenheit oder etwas Ähnlichem, sondern nur in Hinblick auf die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. »Nur der Nagual«, sagte er, »hat die energetische Fähigkeit, für das Schicksal seiner Gruppe verantwortlich zu sein. Jeder in seiner Gruppe weiß das, und alle sind mit seiner Rolle einverstanden. Der Nagual kann ein Mann oder eine Frau sein. Zur Zeit der Zauberer, die meine Tradition begründet haben, war der Nagual in der Regel eine Frau. Ihr natürlicher Pragmatismus - ein Ergebnis ihrer Weiblichkeit - hat meine Tradition in die Fallgruben des Praktischen geführt, aus denen sie sich kaum befreien konnte. Dann waren die Männer an der Reihe, und sie haben meine Tradition in die Fallgruben der Dummheit geführt, aus denen wir uns erst jetzt langsam wieder befreien.
    Seit der Zeit des Nagual Lujan, der etwa vor zweihundert Jahren gelebt hat«, fuhr er fort, »gibt es eine Gemeinsamkeit der Bemühungen, die sich ein Mann und eine Frau teilen. Der Nagual sorgt für Nüchternheit, die Nagual-Frau für Neuerungen.«
    An dieser Stelle wollte ich fragen, ob es in seinem Leben eine Frau gäbe, die Nagual war, aber die Intensität meiner Konzentration erlaubte mir nicht, die Frage zu formulieren. Er tat es an meiner Stelle. »Gibt es in meinem Leben eine Nagual- Frau?« fragte er. »Nein, es gibt keine. Ich bin als Zauberer ein Einzelgänger. Ich habe jedoch meine Gruppe. Im Augenblick sind die Zauberer meiner Gruppe allerdings nicht bei mir.« Ein Gedanke meldete sich bei mir mit aller Macht. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick, daß mir einige Leute in Yuma erzählt hatten, Don Juan befinde sich in Gesellschaft von Mexikanern, die große Erfahrung als Zauberer hätten.
    »Ein Zauberer zu sein«, fuhr Don Juan fort, »bedeutet nicht, sich mit Hexerei zu beschäftigen oder sich darum zu bemühen, in das Leben anderer Menschen einzugreifen oder im Bann von Dämonen zu stehen. Zauberer zu sein bedeutet, eine Ebene des Bewusstseins zu erreichen, die unvorstellbare Dinge zugänglich macht. Der Begriff Zauberei ist unzulänglich, um das auszudrücken, was Zauberer tun. Das gilt auch für den Begriff Schamanismus. Das Tun der Zauberer beschränkt sich ausschließlich auf das Abstrakte, auf das Unpersönliche. Zauberer bemühen sich darum, ein Ziel zu erreichen, das überhaupt nichts mit den Zielen der durchschnittlichen Menschen zu tun hat. Die Zauberer bemühen sich darum, die Unendlichkeit zu erreichen und sich ihrer bewusst zu werden.«
    Don Juan erklärte dann, es sei die Aufgabe der Zauberer, sich der Unendlichkeit zu stellen. Das tun sie täglich, so wie ein Fischer täglich aufs Meer hinausfährt. Es sei eine so überwältigende Aufgabe, daß die Zauberer ihre Namen aussprechen

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