Das Wirken der Unendlichkeit
und zwar genauso wie ich den Psychiater und den Anthropologieprofessor verurteilte. Wer aber war ich, daß ich mir anmaßte, alle anderen zu verurteilen?
Ich bekam schreckliche Schuldgefühle. Die Verurteilung meiner Freunde löste eine mir unbekannte Stimmung aus. Noch schlimmer fand ich, daß ich sie nicht nur verurteilte, sondern daß ich ihre Probleme und Katastrophen erstaunlich banal fand. Ich hatte mich nicht verändert. Sie waren dieselben Freunde. Ich hatte ihre Klagen und die Berichte ihrer Probleme schon hundertmal gehört und nie etwas anderes empfunden als eine echte Identifikation mit dem, was ich hörte. Mein Entsetzen über die Entdeckung dieser neuen Stimmung in mir verunsicherte mich maßlos.
Das Sprichwort >Ein Unglück kommt selten allein< hätte in diesem Augenblick meines Lebens nicht zutreffender sein können. Mein gewohntes Leben ging völlig in die Brüche, als mein Freund Rodrigo Cummings zu mir kam und mich bat, ihn zum Flughafen in Burbank zu bringen. Von dort wollte er nach New York fliegen. Für ihn war das ein sehr dramatischer und verzweifelter Schritt. Er sah darin seinen Untergang, für den Rest seines Lebens in Los Angeles festzustecken. Für alle seine Freunde war das Ganze nicht mehr als ein Witz, denn er hatte schon öfter versucht, mit dem Wagen nach New York zu fahren. Aber der Wagen war jedesmal stehen geblieben. Einmal war er bis Salt Lake City gekommen, bevor er eine Panne hatte. Der Wagen brauchte einen neuen Motor. Er musste sein Auto auf der Stelle verschrotten. Meistens gaben seine Autos bereits am Stadtrand von Los Angeles den Geist auf.
»Was ist mit deinen Wagen nur los, Rodrigo?« fragte ich ihn einmal teilnahmsvoll.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er mit einer verschleierten Andeutung von Schuldgefühlen, fügte aber dann in der Art des Anthropologieprofessors in seiner Rolle als Wiedererweckungsprediger hinzu: »Vielleicht liegt es daran, daß ich Vollgas gebe, sobald ich unterwegs bin, weil ich mich frei fühle. Normalerweise öffne ich dann alle Fenster. Ich möchte den Fahrtwind im Gesicht spüren. Ich komme mir wie ein Kind auf der Suche nach etwas Neuem vor.«
Er fuhr stets alte Schlitten, und mir war völlig klar, daß man mit solchen Autos nicht Vollgas fahren konnte. Er ruinierte einfach die Motoren.«
Rodrigo kam von Salt Lake City per Anhalter nach Los Angeles zurück. Natürlich hätte er auch per Anhalter nach New York fahren können, aber auf den Gedanken kam er nicht. Rodrigo schien dasselbe Leiden zu haben wie ich - eine unbewusste Liebe zu Los Angeles, die er um alles in der Welt nicht wahrhaben wollte. Bei einem anderen Versuch war sein Wagen in bester technischer Verfassung. Er hätte die Strecke bequem schaffen können. Aber Rodrigo war nicht in der Verfassung, Los Angeles zu verlassen. Er fuhr bis San Bernadino. Dort sah er sich Die Zehn Gebote an. Dieser Film weckte in Rodrigo aus nur ihm bekannten Gründen eine so unerträgliche Sehnsucht nach Los Angeles, daß er zurückfuhr. Weinend erzählte er mir, das verdammte Los Angeles habe einen Zaun um ihn gebaut, den er nicht überwinden könne. Seine Frau freute sich darüber, daß er blieb, und seine Freundin Melissa war noch glücklicher, allerdings auch enttäuscht, weil sie ihm die Wörterbücher zurückgeben musste, die er ihr überlassen hatte.
Sein letzter Versuch, mit dem Flugzeug nach New York zu kommen, war noch dramatischer, weil er sich von seinen Freunden das Geld für den Flug geliehen hatte. Er erklärte, auf diese Weise würde er bestimmt nicht zurückkommen, weil er nicht vorhabe, das Geld zurückzuzahlen.
Ich packte seine Koffer in meinen Wagen und fuhr mit ihm zum Flughafen nach Burbank. Er sagte, die Maschine fliege erst um sieben Uhr abends. Es war früher Nachmittag. Wir hatten genug Zeit, um ins Kino zu gehen. Außerdem wollte er noch einen letzten Blick auf den Hollywood Boulevard werfen, den Mittelpunkt unseres Lebens und Treibens.
Wir sahen uns ein Cinerama-Epos in Technicolor an. Es war ein langatmiger Schinken, der Rodrigo jedoch völlig zu fesseln schien. Als wir aus dem Kino kamen, wurde es bereits dunkel. Im dichten Verkehr fuhr ich so schnell wie möglich zum Flughafen. Rodrigo bestand darauf, daß ich durch die Stadt fuhr und nicht die Stadtautobahn nahm, weil zu dieser Tageszeit dort kein Durchkommen sei. Das Flugzeug hob gerade ab, als wir den Flughafen erreichten. Das war das Ende. Kleinlaut und niedergeschlagen ging Rodrigo mit seinem Ticket zu einem
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