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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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eine Liste all der Menschen erstellt, die man von der Gegenwart bis ganz an den Anfang seines Lebens getroffen hat. Sobald man mit der Zusammenstellung fertig ist, beginnt man mit der ersten Person auf der Liste und ruft sich über diese Person alles ins Gedächtnis, woran man sich erinnern kann. Und ich meine wirklich alles, jede Einzelheit. Es fällt leichter, die Rekapitulation in der Gegenwart zu beginnen, denn die Erinnerungen an die Gegenwart sind frisch. Auf diese Weise wird die Fähigkeit, sich zu erinnern, geschärft. Das geht so: Man erinnert sich und atmet. Man atmet langsam und bewusst ein, bewegt den Kopf dabei kaum wahrnehmbar schwingend von rechts nach links und atmet auf dieselbe Weise aus.«
    Er erklärte mir, das Einatmen und Ausatmen soll ganz natürlich geschehen. Wenn man zu schnell atmet, entsteht eine Tendenz, die er ermüdendes Atmen nannte. Damit meinte er Atemzüge, nach denen man wieder langsamer atmen muss, um die Muskeln zu entspannen. »Und was soll ich deiner Meinung nach mit all den Erinnerungen anfangen, Don Juan?« fragte ich. »Du fängst heute zunächst einmal damit an, die Liste zusammenzustellen«, erwiderte er. »Unterteile sie in Jahre oder nach Berufen. Du kannst sie nach jedem beliebigen Ordnungsschema zusammenstellen, aber mache sie fortlaufend, das heißt, beginne die Liste mit dem Menschen, den du gerade kennengelernt hast, und beende sie mit Vater und Mutter. Und dann erinnerst du dich an alles, was die Person betrifft, nichts weiter. Während du übst, wirst du begreifen, was du tust.«
    Bei meinem nächsten Besuch berichtete ich Don Juan, daß ich die Ereignisse meines Lebens sehr gründlich durchgegangen war und daß es mir sehr schwer fiel, mich an seine strikte Form zu halten und die Personen der Liste einzeln durchzugehen. Normalerweise führte mich meine Rekapitulation hierhin und dorthin. Ich ließ die Richtung meiner Erinnerungen von den Ereignissen bestimmen. Was ich tat und zwar bewusst, war, daß ich mich ganz allgemein an einen Zeitabschnitt hielt.
    Zum Beispiel hatte ich mit den Leuten im anthropologischen Institut begonnen, doch ich ließ mich von meiner Erinnerung an jeden beliebigen Zeitpunkt führen, von der Gegenwart bis zu dem Tag, an dem ich mein Studium an der UCLA, der University of California, Los Angeles, begonnen hatte.
    Ich erzählte Don Juan, daß ich etwas Merkwürdiges herausgefunden habe, das ich völlig vergessen hatte. Bis zu einem Abend, an dem ein Mädchen, das am College mit meiner Freundin das Zimmer geteilt hatte, nach Los Angeles kam und wir zum Flughafen fuhren, um sie abzuholen, hatte ich keine Ahnung gehabt, daß es die UCLA überhaupt gab. Das Mädchen wollte an der UCLA Musik studieren. Ihre Maschine kam am frühen Abend an, und sie fragte mich, ob ich sie zum Campus fahren könne, damit sie den Platz sah, an dem sie die nächsten vier Jahre ihres Lebens verbringen würde. Ich wusste, wo der Campus war, denn ich war auf meinem Weg zum Strand unwillige Male an seinem Eingang am Sunset Boulevard vorbeigefahren. Aber ich war nie auf dem Campus gewesen.
    Ks war in den Semesterferien. Die wenigen Leute, denen wir begegneten, wiesen uns den Weg zum Institut für Musik. Der Campus war verlassen, doch subjektiv bot sich mir das schönste Bild, das ich jemals gesehen hatte. Es war eine Augenweide. Die Gebäude schienen lebendig und von einer eigenen Energie erfüllt zu sein. Was ein kurzer Besuch im Institut für Musik hätte werden sollen, wurde zu einer langen Besichtigungstour des Universitätsgeländes. Ich verliebte mich in die UCLA. Ich berichtete Don Juan, daß meine Begeisterung nur durch den Ärger meiner Freundin darüber getrübt wurde, daß ich darauf bestand, über den ganzen, riesigen Campus zu gehen.« »Was zum Teufel kann denn da schon sein?« rief sie wütend. »Es ist, als hättest du noch nie im Leben einen Campus gesehen. Ich glaube, du versuchst nur, meine Freundin mit deiner Sensibilität zu beeindrucken!« Dem war nicht so, und ich erklärte den beiden mit großem Eifer, daß mich die Schönheit dieser Umgebung wirklich beeindruckte. Ich spürte soviel Hoffnung in den Gebäuden und so große Versprechen, war aber nicht in der Lage, meinen persönlichen Eindrücken Ausdruck zu verleihen.
    »Ich war beinahe mein ganzes Leben lang in der Schule!« sagte meine Freundin zähneknirschend. »Ich habe das ewige Lernen satt. Es kotzt mich an! Kein Mensch wird in einer Schule etwas Vernünftiges lernen. Man lernt nur

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