Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
hatte. Nach Bohnerwachs und jenem ominösen Reiniger, den jede Schule in offenbar jeder deutschen Stadt für die Fußbodenreinigung zu verwenden schien. Der Geruch war von Garmisch bis Flensburg der gleiche.
Aus einigen Räumen drang leises Gemurmel, der Nachmittagsunterricht war im Gange. Kims Stundenplan für heute sah zwei Stunden Kunst und zwei Stunden Englisch vor.
Zumindest ist es hier drin wärmer als draußen, dachte Jenna, blickte auf ihre Uhr und setzte sich vor der Tür auf einen Stuhl, in dessen hölzerne Rückenlehne jemand ein Herz und die Buchstaben E und D geschnitzt hatte. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit und ging im Geist das Gespräch mit Kim von vorgestern Abend noch einmal durch. Ihre Tochter, die sich zähneknirschend an das Ausgehverbot gehalten hatte, war keineswegs erfreut darüber gewesen, über Lerndefizite und das kommende Abitur zu philosophieren. Nach einigen renitenten Anläufen, die Jenna entschieden abgeschmettert hatte, war man übereingekommen, dass Kim die nächsten Monate wieder mehr und regelmäßig lernen würde.
»Ja, ist gut, ich verspreche es«, hatte Kim gemurmelt, in die Augen gesehen hatte sie ihrer Mutter jedoch nicht.
Jenna seufzte verärgert. Irgendetwas hatte ihre Tochter verändert, machte ihr vielleicht sogar Angst und verschreckte sie. Kim und sie waren Freundinnen gewesen, stets mehr als Mutter und Tochter. Jetzt hasste sie es, die elterliche Autorität herauskehren zu müssen. Sie dachte an ihre eigenen Eltern, die ihr nie viel Freiraum gelassen hatten. Genau das hatte sie von Anfang an versucht, bei Kim anders zu machen. Das Resultat entsprach allerdings keineswegs ihren Vorstellungen, im Gegenteil. Dass ihre Mutter ihr möglichst viel Freiraum ließ, schien Kim momentan in keiner Weise zu honorieren. Der Plan »antiautoritäre Erziehung mit Samthandschuhen« flog Jenna gerade um die Ohren.
Sie sah erneut auf die Uhr, stand auf und klopfte an die Tür. Vielleicht wusste Dr. Berger Rat? Das war momentan ihre einzige Hoffnung.
»Herein«, erklang eine kühle Stimme.
Jenna öffnete die Tür und sah eine Frau mit kurzem blondem Haar und einer randlosen Brille am Pult sitzen und in einer Mappe blättern.
»Dr. Berger?«
»Ja, das bin ich. Kommen Sie doch herein.« Die Frau erhob sich und streckte Jenna die Hand entgegen. Dr. Berger trug ein enges, lachsfarbenes Kostüm, das ihre stämmige Figur unterstrich. Ihre Augen waren so kalt wie die Eisblumen auf dem Fenster.
»Jenna Winters. Ich bin Kims Mutter«, stellte sich Jenna vor und schüttelte die dargebotene Hand.
»Setzen Sie sich«, bat Dr. Berger und wies auf die zahlreichen Stühle der Klasse.
Jenna setzte sich in die erste Reihe, legte ihre Tasche neben sich und kam sich vor wie eine früh pensionierte Musterschülerin. Sie sah vor zum Pult und lächelte nervös. »Danke. Fehlt nur noch, dass Sie mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.«
»Aber nicht doch«, erwiderte Dr. Berger und lächelte dünn. Sie vertiefte sich wieder in eine Akte, dann sah sie Jenna über ihre Brille hinweg an. »Kims Noten waren bis vor drei Monaten durchaus akzeptabel.«
Jenna nickte. »Ja, deswegen bin ich bei Ihnen. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie lernt nicht mehr. Sie redet nicht mit mir. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich verzweifelt. Es muss doch einen Weg geben, aber ich sehe ihn einfach nicht.« Sie schaute einen Moment aus dem Fenster und betrachtete den gläsernen Steg, der über die Albrechtstraße führte, dann fuhr sie fort: »Und wenn sie so weitermacht, hat sie ein richtiges Problem, denke ich. Haben Sie vielleicht irgendeine Idee?« Sie lehnte sich zurück und sah ihre Gesprächspartnerin erwartungsvoll an.
»Das Problem hat sie jetzt schon«, antwortete Dr. Berger kurz und machte sich eine Notiz, bevor sie wieder aufsah. Auf Jennas fragenden Blick hin fuhr sie fort: »Kim ist aufsässig und frech, abgesehen von ihren miserablen Zensuren.«
»Inwiefern denn?«
»Sie hält sich nicht an die Regeln und Vorschriften der Schule, kommt immer wieder zu spät und stachelt dadurch andere Mitschüler zum Nichtstun an.«
»Sie kommt zu spät?«, wunderte sich Jenna. »Das kann ich mir kaum vorstellen, schließlich fährt sie morgens gemeinsam mit ihren Freundinnen. Kommen die denn alle zu spät? Und sie stachelt sie an? Wie soll das gehen?«
»Nun, sie stellt Fragen, die rein gar nichts mit dem Unterrichtsthema zu tun haben. Fordert andere auf, den Unterricht zu stören. Sie widerspricht.
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