Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
Küchentisch ab, ließ auf Kims Teller zwei Croissants liegen und goss ihr Kaffee und ein Glas Orangensaft ein. Dann stellte sie sich an die Balkontür und blickte hinaus. Carolin, Anne … War das erst ein paar Tage her? Sie tastete nach ihrem Amethyst und schloss in der Hosentasche ihre Finger darum. Der Stein wurde warm, schmiegte sich in ihre Handfläche, seine Energie vibrierte leicht durch sie hindurch.
Auf der Linde vor dem Balkon hüpften zwei Meisen wagemutig von Ast zu Ast und piepsten vorwurfsvoll. Der Meisenknödel war leer. »Wie gesagt, das war der Letzte«, murmelte Jenna und lehnte ihre Stirn gegen das Fensterglas. »Wegen euch hänge ich mich da nicht mehr raus.« Sie hörte ein Rascheln, dann spürte sie, wie Kim hinter sie trat. »Mam.« Mehr sagte Kim nicht.
Jenna drehte sich um und nahm ihre Tochter in die Arme. Einige Atemzüge lang standen sie so da, fanden Trost in der Gegenwart der anderen, dann löste sich Jenna, wischte sich die letzte Träne aus den Augen und schob Kim die Locken aus dem Gesicht. »Komm frühstücken, Kleine.«
Kim schob sich ein halbes Croissant auf einmal in den Mund, kaute schweigend. Die zweite Hälfte tunkte sie in den Kaffee. »Mam?«, fragte sie unvermittelt.
Jenna stand an die Küchenzeile gelehnt. »Mhm?«
»Was soll ich zuerst tun? Mich darüber freuen, dass wir so etwas Besonderes sind – oder weinen, weil wir schuld daran sind, dass Anne tot ist … und ihre Eltern.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie fast unhörbar hinzu: »Und Alex.«
Jenna hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Kim. Ich glaube, die Reihenfolge ist egal. Wir werden trauern und trotzdem lachen, weinen und trotzdem weiterleben. Mit all dem, was wir jetzt wissen. Nur heute noch nicht. Heute nehmen wir uns eine Auszeit. Keine Magie, keine Steine, kein Feuer. Nur wir und eine Familienpackung Taschentücher, okay?«
Kim schniefte und nickte. »Klingt gut.« Plötzlich legte sie ihren Kopf auf die verschränkten Arme und begann zu weinen. Am ganzen Körper schüttelte es sie, sie weinte und weinte, als wollte sie nie wieder aufhören. Jenna setzte sich neben sie und legte ihr leicht eine Hand auf die Schulter, wartete, bis das Schlimmste vorbei war. »Weißt du, was die andere Hüterin gesagt hat? Letztendlich hat es Alex uns möglich gemacht, dass wir den Jäger gebannt haben.«
Kim schniefte. »Ich habe die Hüterin auch gehört, Mam. Aber warum Alex? Warum nicht … warum nicht der ver dammte Matthew?« Ihre Stimme klang gedämpft, sie hatte den Kopf nicht von den Armen gehoben.
»Freiwillig«, rief sich Jenna den genauen Wortlaut ins Ge dächtnis. »Alex hat uns gerettet, Kim. Dich und mich. Das wer den wir nicht vergessen.« Dann nahm sie die Flasche Grappa, schenkte einen Fingerhut hoch in die Kaffeetasse und schob sie vor Kim. »Der ist nicht mehr heiß. Los, kipp ihn runter. Anweisung von oben«, forderte sie ihre Tochter auf.
»Echt?«, fragte Kim zwischen zwei Schluchzern und musste gegen ihren Willen lächeln.
Ihre Mutter nickte. »Mach schon. Und komm ins Wohnzimmer, wenn du fertig bist mit frühstücken.«
Jenna ging an die alte Anrichte, die schon seit ewigen Zeiten an der Wand stand, holte vier Kerzen hervor und stellte sie auf eine Platte. »Für Alex und Anne«, flüsterte sie und zündete die ersten beiden an.
»Für Carolin … und Matthew«, ergänzte Kim und nahm ihr die Streichholzpackung ab.
Es dauerte ein paar Sekunden, dann brannten die vier Kerzen hell und gleichmäßig. Die Flammen doppelten sich im Spiegel über der Anrichte, und Jenna dachte, sie brennen einmal für uns hier, und dort im Glas einmal für euch, wo immer ihr jetzt seid. Sie nahm Kim an der Hand und schickte ein lautloses Dankgebet aus. Kim ist bei mir. Wir sind zusammen.
Ein Windstoß fuhr durch den Raum und blies die Kerzen unvermittelt aus.
»Schon wieder?« Jenna und Kim drehten sich hastig einmal um sich selbst, doch niemand war zu sehen, die Fenster waren geschlossen.
Jenna blickte in den Spiegel, sah ihre eigenen und Kims verschreckte Augen. Dahinter erkannte sie Alex. Dann sanken Nebelschwaden herab, hüllten ihn ein.
Einen Moment später war alles wie vorher. Nur die Kerzen blieben aus.
Ein leises Wispern ertönte im Raum, wurde zurückgeworfen von den Wänden, ein Chor von flüsternden Stimmen, der zu einem Crescendo anschwoll und Jenna bestätigte, was sie schon immer vermutet hatte: Es gibt hin und wieder eine zweite Chance.
Jenna lächelte verhalten und zündete
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