Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
Exzellenz?«, fragte der Anführer, als die Angreifer allesamt gefesselt nach draußen gebracht worden waren.
»Nein«, winkte Richelieu ab, »nur ein Kratzer. Was zum Teufel hat Euch so lange aufgehalten, Henri?«
»Ähm …« Henri hustete verlegen. »Wir hatten … Verpflichtungen …«
Richelieu sah ihn scharf an und zog die Augenbrauen hoch.
»Es wird nicht wieder vorkommen, Exzellenz«, sagte Henri, legte die rechte Hand auf sein Herz und verneigte sich kurz.
Der Kardinal schüttelte den Kopf. »Diesmal seid Ihr zu spät gekommen. Ihr wisst, was das heißt, nicht wahr?«
Henri wurde blass und wollte etwas sagen, doch Richelieu brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
Dann kniete er neben Lagardère nieder und schlug ein Kreuz.
»Es tut mir leid, mein Freund«, sagte er leise. »Um Euch beide. Doch wer einmal versagt, lebt in diesen Zeiten nicht lange genug, um es wiedergutzumachen. Es gibt keine zweite Chance im Leben. Nicht bei Gott – und nicht bei Kardinal Richelieu.«
Einige Tage später wurden Antoine Lagardère und Sophie Solanger auf dem Friedhof von Versailles bestattet. Die ersten Schneeflocken rieselten herab und kündigten den nahen Winter an. Sie überzogen die Gräber mit einer dünnen Schicht weißer Kristalle, die im Licht einer Fackel glitzerten. Marie de Bourbon und der Kardinal setzten ihre Fehde für einen Tag aus – sie waren die einzigen Trauergäste.
Morgen würden sie wieder Feinde sein, heute waren sie vereint im Bedauern über den sinnlosen Tod zweier Liebender.
Marie de Bourbon blickte auf die frischen Gräber und seufzte leise. Der erste Teil ihres Plans war aufgegangen: Die Saat war gesät, die Ihren vorbereitet. Dennoch hätte sie ihrem jungen, impulsiven Sekretär gerne gesagt, dass es unter Umständen eine zweite Chance gab.
Nur war diese verteufelt unsicher.
o
Sie waren nur noch lautlose Schatten in einer grauen und grau samen Welt. Wo sie existierten, gab es keine Vergangenheit und keine Zukunft. Zeit war unwichtig in diesem Reich.
Sie waren unzählige, und täglich, ja stündlich, wurden es mehr. Draußen, außerhalb der Grenzen dieses Reiches, verrann die Zeit. Doch wer einmal zum Schatten wurde, der war verdammt.
Für die Ewigkeit.
Denn was machte Zeit noch für einen Unterschied, wenn es nichts gab, worauf man hoffen konnte?
Wer lange genug blieb, der vergaß. Wer er einmal gewesen war, worüber er gelacht, worüber er geweint hatte. Der Nebel sog alles auf, und am Ende war nichts mehr wichtig. Alles blieb, wie es war.
Jonathan von Keysern hatte seine Lektion gelernt. Er war zum Schatten geworden, ein Gefangener in diesem Reich ohne Grenzen. Denn er hatte versagt, bitter versagt, und mit seinem Leben dafür bezahlt. Doch er vergaß nicht, konnte nicht vergessen. Hass und Wut quälten und nährten ihn, verhinderten, dass er sich dem Vergessen überließ, in den Nebel eintauchte, sich auflöste und wartete, bis die Ewigkeit vorüber war.
Nein, er vergaß nicht.
Von Keysern hörte zu. Die Schatten im Nebel wisperten und raunten, und während draußen die Jahrhunderte vergingen, die Welt mehrfach aufblühte und in den Flammen versank, wusste er, dass seine Zeit noch einmal kommen würde. Sein Körper war gebrochen, längst zu Staub zerfallen, doch er wartete geduldig. Wenn es einmal so weit war, würde er vollenden, was er einst begonnen hatte.
Mittwoch, 1. Februar
Die Natur schien sich gegen alles Leben verschworen zu haben. Es war noch einmal kälter geworden, das Thermometer war in die zweistelligen Minusgrade gefallen. Der Schneematsch fror auf den Straßen und Gehwegen Münchens zu einer eisigen Masse, und die Luft stach in den Lungen. Es war, als hätte ein grausamer Winter noch einmal beschlossen, allen zu beweisen, wozu er fähig war.
Jenna betrat das Rupprecht-Gymnasium in der Albrechtstraße und suchte nach dem richtigen Zimmer. Raum 14 hatte auf dem Infoblatt der Schule gestanden, das zu Beginn des Schuljahres verteilt worden war. Gabriele Berger, die bestge hasste Lehrerin der Schule, war Ansprechpartnerin für alle Eltern der Zwölftklässler, und damit auch für Jenna.
Nach einem Blick auf den etwas verblassten Wegweiser stand fest, dass der Besprechungsraum sich im zweiten Stock befand. Jenna hängte sich den Mantel über den Arm und stieg langsam die Stufen hoch. Während sie einer hektisch telefonierenden Frau mit Fendi-Handtasche auswich, schnupperte sie und lächelte. Es roch, wie es auch in ihrer Schule immer gerochen
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