Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
den Grabstein. »Ich habe heute keine Blumen dabei«, sagte er und lächelte entschuldigend. »Nächstes Mal wieder. Versprochen …«
Jenna nahm stumm seine Hand, einige Augenblicke standen sie schweigend nebeneinander, jeder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken.
»Ich habe solche Angst um Anne«, flüsterte Nicholas nach einer Weile. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn sie mich allein lässt.«
»Sie wird es schaffen, Nick, glaub daran. Sie muss!« Jenna drückte seine Hand.
»Ich hoffe, du hast recht.« Es klang wie ein inbrünstiges Gebet.
Nicholas verharrte noch einen Moment mit gesenktem Kopf, dann legte er den Arm um Jennas Schultern und zog sie mit sich. »Komm, lass uns noch ein bisschen gehen, ja? Ich möchte etwas mit dir besprechen.«
So seltsam es ihr schien, Jenna begann sich zwischen den steinernen Visitenkarten der Toten wohlzufühlen. Eine Besinn lichkeit kehrte ein, die sie in den letzten Tagen so schmerzlich vermisst hatte. Das spärliche Licht der kleinen Laternen, die Kerzen, die hie und da auf einem der Grabmale brannten, all das strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus. So wanderten sie eine Zeit lang nebeneinander her, über die gekiesten Wege, an verwaisten Bänken vorbei und unter alten Weiden hindurch, deren Zweige fast den Boden berührten.
Keiner von beiden bemerkte die dunkle Gestalt, die völlig lautlos hinter ihnen her schlich, immer darauf bedacht, den richtigen Abstand zu wahren. Sie blieb stets im Schatten, lehnte sich an die Rückwände der Grüfte, huschte von Baum zu Baum und ließ doch die beiden Freunde nie aus den Augen.
Nicholas hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und blieb schließlich vor dem flachen, runden Bassin eines Springbrunnens stehen. Zurückgestutzte Rosenbüsche in geometrischen Mustern erstreckten sich zwischen Kies und Brunnen im matten Licht der Dämmerung. »Wollen wir uns setzen?«, fragte er und wies auf eine der vier Bänke, die aneinandergereiht wie im Halbrund eines kleinen Amphitheaters standen.
»Gern«, meinte Jenna leise, »es ist so friedlich. Eine gute Idee hierherzukommen …«
Die nächste Frage von Nicholas traf sie unvorbereitet. »Jenna, was ist, wenn die mich treffen wollten? Wenn es ein Anschlag auf mich war und nicht auf Anne?«
»Wie kommst du denn darauf?« Jenna sah ihn verblüfft an.
»Ich war nicht immer Antiquar und Sammler alter Bücher«, erklärte Nicholas ruhig. »Bevor ich Anne traf, war ich … Diplomat, wie mein Vater auch und sein Vater vor ihm.«
»Ich weiß, das hast du einmal kurz erwähnt«, erinnerte sich Jenna. »Aber was hat das mit den Schüssen im Café zu tun?«
»Während meiner Zeit in Afrika bin ich einigen Leuten auf die Füße getreten«, gab Nicholas nachdenklich zurück. »Gefährlichen Leuten. Dieser Kontinent ist kein Spielplatz für Amateure. Es gibt zu viele Despoten, machthungrige Emporkömmlinge und wahnsinnige Politiker, die nichts unversucht lassen, um an den Futtertrog der Entwicklungshilfen, Bestechungsgelder und Zuschüsse zu kommen. Ich war lange dort, Jenna, vielleicht zu lange. Mein Name stand damals mit Sicher heit auf mehreren Todeslisten. Ich war vorsichtig, bin schließlich rechtzeitig ausgestiegen. Aber es gibt Rechnungen, die werden erst nach Jahren beglichen. Wer weiß?«
Jenna sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Das gibt’s doch nicht. Ich kenne dich schon so lange, und das sagst du mir erst jetzt?« Sie holte Luft. »Weiß Anne davon?«
»In Grundzügen«, gab Nicholas zu. »Das ist lange her. Aber vielleicht holt mich meine Vergangenheit jetzt ein …«
Jenna schürzte die Lippen und sah ihren Freund nachdenklich an. Diese Variante war verlockend, aber sie rief sich sofort zur Ordnung. Dann hätte sie das Video nicht erhalten. Schlagartig war der Knoten in ihrem Magen wieder da. Sollte sie es sagen? Sie gab sich innerlich einen Ruck. »Ehrlich gesagt …«, begann sie, »also … ich meine … ich vermute, dass dieser Anschlag wahrscheinlich eher mit mir als mit dir zusammenhängt.«
In diesem Augenblick erklang ein leises Wispern, und Jenna blickte sich irritiert um. Es klang wie Blätterrauschen, doch die Bäume streckten ihre Äste kahl in den Himmel, der gerade begann, sich dunkel zu verfärben. Sie schüttelte den Kopf, um das Geräusch zu vertreiben, doch das Wispern blieb.
»Mit dir? Ein Mordanschlag? Wie meinst du das?«, fragte Nicholas ungläubig zurück.
»Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll«, zögerte Jenna.
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