Das Wispern der Angst: Thriller (German Edition)
»Es klingt alles so völlig … verrückt.«
»Bist du in Gefahr?« Nicholas ließ Jenna nicht aus den Augen. Dann wandte er sich um und blickte instinktiv sichernd nach allen Seiten. Als er nichts Beunruhigendes entdecken konnte, legte er seine Hand auf Jennas Schulter. »Komm schon, rede!«
Jenna schüttelte seine Hand ab, stand auf und lief ein paar Schritte über den Kies. Sie sah nach oben. Zwei Flugzeuge zogen ihre Bahnen durch die Abenddämmerung, und Jenna beneidete für einen Moment alle Passagiere, die darin saßen und irgendwohin flogen. Weit, weit weg von ihrer Realität.
Das Wispern um sie herum war verstummt.
o
Im Reich der Schatten veränderte sich das Zwielicht. Die Nebel wurden heller. Manche der Schatten spürten es plötzlich: Es gab eine neue Chance. Vielleicht die letzte? Die, die noch wussten, wer sie waren, strebten dem Tor zu.
o
Zwischen den Grabreihen um sie herum veränderte sich das Licht, es wurde dunkler, schwärzer. Bewegte sich da nicht etwas? Mit einem Mal wusste Jenna, dass sie nicht mehr allein waren, und zog fröstelnd den Mantel enger um sich. Seltsam, warum hatte sie die Kälte vorher nicht gespürt? Sie hielt den Atem an und starrte angestrengt in die Dunkelheit.
Dann schlug sie entsetzt die Hand vor den Mund. Es mussten Dutzende sein, die plötzlich zwischen den Gräbern standen und sie anblickten. Mit leeren Augen und ausdruckslosen Mienen. Es waren Menschen, und doch keine, es waren nur Schatten, Schatten derer, die sie einmal gewesen waren.
Jenna holte tief Atem, wollte etwas sagen, scheiterte kläglich. Nicht einmal ein Krächzen brachte sie hervor.
Die Schatten wogten hin und her wie Schilf im Wind, blieben jedoch auf Distanz, als hindere sie eine unsichtbare Mauer daran, den nächsten Schritt zu tun. Mit jeder Sekunde wurden es mehr, die sie umringten, ihr die Luft nahmen.
Jenna schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder – doch das Bild blieb. War der Mann im dunklen Umhang in München von hier gekommen? Himmel … Was hatte Kim getan? Sie fühlte die Panik wieder hochsteigen, ihre Hände begannen zu zittern.
Nicholas’ Stimme hinter ihr riss sie aus der Erstarrung. »Bitte, Jenna. Sag etwas. Erklär es mir!«
»Siehst du sie?« Jenna erkannte ihre Stimme nicht mehr wieder.
Nicholas blickte sich um. »Die Grabsteine?«, sagte er, »Oder wen meinst du?«
»Neben den Grabsteinen?«
»Da ist nichts, Jenna.« Nicholas’ Stimme klang etwas ungeduldig, und er sah sie misstrauisch an. »Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?«
o
Manche wollten einfach nur wieder zurück. Doch die anderen wussten, was sie tun würden, wenn sie wieder im Reich der Lebenden wären. Nicht immer waren es die Aufrechten, die Guten, die das Tor passieren konnten. Der Wille des Bösen war meistens stärker. Der Wunsch nach Vergeltung verblasste im Reich der Schatten zuletzt.
o
Jenna starrte dorthin, wo die Nebel wie lebendige Wesen aus dem Gras schwebten, und wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als diesem Anblick entfliehen zu können.
Langsam, als würden sie einsehen, dass sie heute vielleicht nichts mehr erreichen würden, verblassten die Schatten wieder. Doch das Gefühl der Verzweiflung, das sie umgab, blieb in der Luft hängen wie klebriger Honig, der bitter schmeckte. Jenna stolperte zwei Schritte zurück, stieß gegen die Buchsbaumhecke und sank auf die Knie. Dann übergab sie sich, würgte und spuckte Galle, bis nichts mehr übrig war.
»Verdammt, Jenna!«, hörte sie noch, dann hielt Nicholas sie an den Schultern fest, wartete, bis der Anfall vorüber war und drückte ihr wortlos ein Taschentuch in die Hand.
Minuten vergingen, bis Jenna die Kraft fand, sich wieder aufzurichten. Es war, als hätten die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit, die sie umgab, alle Kraft aus ihr gesaugt.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schwankend hielt sie sich an Nicholas fest. Der Friedhof drehte sich mit beängstigender Geschwindigkeit um sie. Nicholas zog Jenna entschlossen mit sich auf die nächste Bank. Sie ließ sich schwer auf die Sitzfläche fallen, starrte auf den Boden, versuchte ruhiger zu atmen und so das Grauen zu bannen. Endlich begann sie zu erzählen, es brach förmlich aus ihr heraus: von ihren Träumen, Carolins Tod, ihrem Unfall, Kim und Matthews seltsamem Ritual – und ganz zum Schluss berichtete sie Nicholas von dem Video, das sie in ihrem E-Mail-Posteingang gefunden
Weitere Kostenlose Bücher