Das Wispern der Schatten - Roman
der Grund dafür, dass er den Rat überredet hatte, seiner Entscheidung zuzustimmen, die so junge und unerfahrene D’Shaa in den Rang eines ordnenden Intellekts zu erheben. Ganz wie Thraal es vorhergesehen hatte, war der ehrgeizige D’Selle unfähig gewesen, der Versuchung zu widerstehen, D’Shaa anzugreifen. Thraal hatte D’Selles Bestrafung für sein Versagen aufgeschoben, um D’Zel mit in den Konflikt hineinzuziehen. Da nun beide dergestalt abgelenkt waren, fehlten ihnen der Handlungsspielraum und die nötigen Hilfsmittel, um gegen Thraal Ränke zu schmieden.
Alles war genauso verlaufen, wie er es geplant hatte, und das hatte er im Voraus gewusst. Seine indirekte, aber absichtliche Destabilisierung der südlichen Region hatte mittlerweile auch schon den Erfolg, die Heiden und das Geas aus der Reserve zu locken. Wenn er das Geas im Namen der Deklination in Besitz nehmen konnte, dann würde aller Ruhm ihm gebühren, und nicht etwa dem Großen Erlöser. Gewiss würde die Deklination dann in Erwägung ziehen, ihn an die Stelle des Großen Erlösers dieser Welt treten zu lassen.
Der Älteste Thraal beglückwünschte sich dazu, schon vor Jahrtausenden so überaus vorausschauend gewesen zu sein, sich selbst als Wächter der Ältesten vorzuschlagen, als seinesgleichen in dieser Welt eingetroffen war. In seiner Rolle war er oft wach, stand in regelmäßigem engem Kontakt mit den ordnenden Intellekten und war in der Lage, sie und die Vorgänge in ihren Regionen direkt zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu lagen die anderen Ältesten und der Große Erlöser selbst so gut wie immer im Schlaf und übten nur indirekten Einfluss auf die Geschehnisse in diesem Reich aus, während sie sich mit ihresgleichen und dem Kosmos jenseits dieser Welt austauschten. Zwar alterte er infolgedessen auch schneller, aber den endgültigen Sieg würde doch er allein erringen.
Häuptling Schwarzschwinge stand am Rande der Ewigkeit und breitete die Arme weit aus, um die aufgehende Sonne willkommen zu heißen. Wie sie ihm in den Augen brannte! Das war der Preis dafür, das göttliche Licht zu betrachten. Der Wind betäubte sein Gesicht, und er ließ seinen Umhang zu Boden fallen, so dass er bis auf seine Edelsteinkette nackt war. Wenn er so stehen blieb, bis die Sonne ganz aufgegangen war, würde er erfrieren. Das war der Preis dafür, von der göttlichen Luft umfangen zu werden. Blut sickerte zwischen seinen Zehen hervor. Die scharfen Steine des Berggipfels hatten ihm die entblößten Fußsohlen aufgeschnitten, als er seinen Pilgergang in der Morgendämmerung unternommen hatte. Das war der Preis dafür, über göttlichen Boden zu schreiten. Die Wolken rings um den Gipfel machten seine Haut und die Felsen feucht. Wenn er nicht vorsichtig war, würde er abgleiten und sich den Kopf aufschlagen. Das war der Preis dafür, am Leben spendenden göttlichen Wasser teilzuhaben. Der Tod war der Preis, den ein Sterblicher dafür zahlte, sich dem Göttlichen zu sehr zu nähern. Doch kein Sterblicher konnte ohne das Göttliche bestehen oder sich seinem Lockruf widersetzen. Deshalb kam der Tod immer, das wusste er. Deshalb konnte er sich auch so ruhig damit abfinden.
Er war vorbereitet. Er war bereit, als er den Tod hinter sich heraufsteigen hörte. Er hatte sich von seinem Sohn verabschiedet, einem Sohn, dessen Augen ihm gezeigt hatten, dass seine Zeit gekommen war. Häuptling Schwarzschwinge bedauerte das Leben, das er geführt hatte, nicht und auch nicht den Tod, den er sterben würde. Wie hätte er das auch tun können? Das alles war, was seine Krieger von ihm benötigten, und er hatte immer sein Bestes getan, ihnen zu geben, was sie brauchten. Er hoffte nur, dass sie es nicht einst ihrerseits bedauern würden.
» Habe Vertrauen, oh mein Volk, habe Vertrauen!«
Ein Stein rutschte hinter ihm ab, und Häuptling Schwarzschwinge drehte sich lächelnd um. » Du bringst meinem Volk den Tod, nicht wahr?«
» Ja, das tue ich«, antwortete Prediger Praxis und stieß den Heiden vom Gipfel.
Kapitel 10
UM DER SÜNDE DES DASEINS WILLEN
UND AUS IHR HERAUS
A h, du bist wach, meine Liebe. Du hast mehrere Stunden geschlafen. Wie fühlst du dich?«
» Es geht mir gut, Freund Anupal, danke«, antwortete Freda und beschirmte ihre Augen vor dem hellen Himmel. » Wo sind wir?«
» Auf dem Weg nach Süden. Was meinst du, bist du in der Lage zu laufen? Dann könnten wir schneller vorankommen. Die Welt hält nie inne und wartet auf niemanden, verstehst du, nicht einmal
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