Das Wispern der Schatten - Roman
auf mich. Wenn wir nicht rechtzeitig an den Ort gelangen, an dem wir sein müssen, ist er vielleicht gar nicht mehr da, und wir finden ihn nie, denn Orte haben genauso ihre eigene Persönlichkeit wie Felsen, Bäume und Gebäude. Orte sind Augenblicke in der Zeit. Verstehst du, was ich sagen will, meine Liebe?«
Sie streckte vor Anspannung die Zunge heraus. » Wenn ich jetzt also ins Bergwerk zurückkehren würde, wäre es nicht mehr derselbe Ort?«
» Genau.« Er lächelte wohlwollend. » Einige derselben Felsen wären noch dort, andere hingegen nicht. Einige derselben Menschen wären dort, andere nicht, und wahrscheinlich wären auch neue da. Gewiss wäre es kein völlig anderer Ort, aber er wäre in sehr wichtiger Hinsicht durchaus verändert.«
Das konnte sie nachvollziehen. Ohne Norfred würde das Bergwerk für sie nie mehr derselbe Ort sein. » Also kann man jeden Ort nur ein einziges Mal aufsuchen? Man kann nicht… in der Zeit dorthin zurückkehren? Das ist seltsam. Und auch sehr traurig, Anupal.«
Ihre Beobachtung ließ ihn ein wenig stutzen. So hatte er es bisher noch nie betrachtet. Ja, es war wirklich traurig. Die wunderbaren Orte, die er einst gekannt hatte, aber nie wiedersehen würde, waren nicht zurückzuerlangen. Was für eine Schande, dass die Sterblichen dieser Welt so kurze Leben hatten wie Blätter an einem Baum, die nur darauf warteten abzufallen! Er zwang sich, die Mundwinkel hochzuziehen. » Lass uns nicht melancholisch oder niedergeschlagen sein, meine Liebe, denn wir sind jetzt an einem guten Ort. Wir haben einander, nicht wahr?«
» Ja, Anupal.« Sie nickte und ahmte sein Lächeln nach, obwohl es ihre Wangen knirschen ließ. » Aber ich habe eine Frage. Wenn wir nicht wissen, ob ein Ort noch da sein wird, wenn wir an ihn gelangen, woher wissen wir dann überhaupt, wohin wir reisen?«
» Ah! Da kommt die Natur des Willens ins Spiel. Dein Wille muss entscheiden, was er möchte oder braucht, und dann den Ort schaffen, indem er rechtzeitig dorthin reist. Bei den meisten Orten besteht keine große Notwendigkeit, sich zu beeilen, aber bei anderen wird man bis an seine Grenzen getrieben. Und manche Orte sind unmöglich zu finden, bloße Phantasiegebilde.«
» Ich verstehe. Was möchte oder braucht dein Wille denn, Anupal?«
» Nun, ich habe gehört, dass sich im Süden Leute aufhalten, die auch meine Freunde werden könnten, wenn ich rechtzeitig dorthin gelange und etwas für sie tue. Erinnerst du dich, dass ich gesagt habe, dass ich Gutes zu tun versuche, um gute Freunde zu gewinnen? Das genügt mir. Was möchtest oder brauchst du, meine Liebe?«
Freda zögerte. Er hatte ihr verraten, was er wollte, also erschien es ihr nur recht und billig, ihm dasselbe zu erzählen. Und er war ihr Freund. » Nun ja, ich muss jemanden finden, der Jan heißt und entweder nach Osten oder nach Süden gegangen ist, obwohl ich nicht weiß, was Osten ist. Und ich muss… muss…«
» Stotterst du? Hab keine Angst davor, es mir zu erzählen, meine Liebe«, sagte der Sonderbare und berührte ihre verletzte Hand.
Bei seiner Berührung durchlief sie ein prickelnder Schauer. Bis auf Norfred war er der Einzige, der sie je auf eine Art berührt hatte, die nicht schmerzhaft war. Er fühlte sich nicht so warm und fest wie Norfred an– seine leichten Finger erinnerten sie eher an die Spinne, die einmal über sie hinweggehuscht war–, aber es war dennoch aufregend. Hastig sagte sie: » Ich muss drei verlorene Tempel finden, um danach Freistatt finden zu können.«
Sein Kopf zuckte hoch und zurück, als hätte sie ihm einen Fausthieb versetzt. Sie machte sich auf einmal Sorgen, dass sie ihn vielleicht gekränkt hatte, aber dann nahmen seine Lippen ihr gewohntes Lächeln wieder an. » Wirklich, meine Liebe? Das sind seltsame Orte, die du da aufsuchen musst, und sie bringen uns vielleicht an unsere Grenzen, aber ich werde dir helfen, sie zu finden, wenn du mir hilfst, diese neuen Freunde zu gewinnen, und versprichst, eines Tages mit mir zum Großen Tempel zu kommen.«
» Was ist der Große Tempel? Ist er einer der verlorenen Tempel?«
» Nichts gar so Interessantes, so leid es mir tut. Er klingt weit großartiger, als er wirklich ist. Er ist nur mein Zuhause, das ist alles. Ich muss manchmal dorthin gehen, um mich auszuruhen, aber ich könnte es nicht ertragen, von dir getrennt zu sein, meine Freundin.«
» Ich werde mitkommen, wenn es dich glücklich macht, Anupal.«
» Das ist gut. Jetzt sind wir uns einig und
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