Das Wispern der Schatten - Roman
Ich dachte, er wäre nicht bereit zu antworten, und habe ihn auf seinem Felsen sitzen lassen. Aber am nächsten Tag hat er mich aufgesucht, mir die Antwort gegeben und mir erklärt, dass er so damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, dass er noch nicht einmal bemerkt hat, dass ich gegangen bin. Er sagt recht häufig seltsame Dinge, die– da bin ich mir sicher!– Antworten auf Fragen sind, die man ihm schon vor Jahren gestellt hat. Aber ob er heilig ist? Wir beten ihn nicht an, und er leitet auch keinen Gottesdienst, wenn es das ist, was du meinst. Jeder von uns entscheidet sich selbst für ein bestimmtes Verhältnis zum Geas und bringt den Göttern auf eine Art, die er ebenfalls frei wählt, Verehrung entgegen.«
» Hat er verfilztes Haar, läuft nackt durch die Gegend und isst ständig Pinienkerne?«, fragte Aspin.
» Äh… nein. Er ist bucklig, gut gekleidet, raucht immer Pfeife und isst mehr als zehn andere Männer zusammen, ohne jemals zuzunehmen. Es reicht wohl zu sagen, dass er von niemandem mehr zum Abendessen eingeladen wird.«
» Das klingt so schlimm wie mein Wolfsfreund, obwohl der Wolf gewöhnlich nicht abwartet, bis er eingeladen wird. Wenn ich zu Abend esse, ist er gemeinhin der Ansicht, dass ich das Essen aus dem Wald gestohlen habe und damit ihm, da der Wald ja ihm gehört. Deshalb hat er keine Gewissensbisse, es sich einfach zurückzuholen, wenn es ihm so gefällt.«
» Dann bete ich darum, dass Bion und der Wolf sich nicht begegnen, damit der Wolf den Zauberer nicht noch auf dumme Gedanken bringt.«
Sie lachten alle, obwohl Jillan des Geplänkels zwischen Thomas und Ash längst müde war. Er musste nach Hyvans Kreuz, um seine Eltern zu befreien. Alles andere war bestenfalls eine unwillkommene Ablenkung, schlimmstenfalls gefährliche Zeitverschwendung. Er verstand Aspins Argument, dass es ein nützliches Mittel zum Zweck sein könnte, nach Linderfall mitzukommen, aber es fiel ihm schwer, noch an irgendetwas oder irgendjemanden zu glauben.
Nun, es waren deine Eltern, die dir überhaupt erst geraten haben, diesen Thomas Eisenschuh aufzusuchen, weißt du noch?, bemerkte der Makel.
» Vertraust du ihm denn?«, fragte Jillan stumm.
Ich? Ha! Ich vertraue niemandem, oder? Ich vertraue mir manchmal ja selbst kaum.
» Genau.«
Das würde dann heißen, dass deine Eltern sich geirrt haben, nicht wahr?
» Vermutlich«, räumte Jillan ein.
Ich nehme an, Eltern machen ständig Fehler. Thomas hat doch auch gesagt, dass er sie schon sehr lange nicht mehr gesehen hat. Vielleicht hat er sich in der ganzen Zeit verändert?
» Wie verändert?«
Woher soll ich das wissen? Du hast dich schon in der kurzen Zeit verändert, seit du aus Gottesgabe aufgebrochen bist, nicht wahr? Menschen verändern sich. Das heißt aber nicht, dass es unmöglich ist, an irgendetwas oder irgendjemanden zu glauben.
» Ich habe mich nicht verändert.«
Natürlich hast du das.
» In welcher Hinsicht?«
Du bist weit lästiger geworden und stellst viel mehr dumme Fragen als früher.
» Das stimmt nicht. Prediger Praxis hat auch immer gesagt, ich würde zu viele unwissende Fragen stellen.«
Ja, und deine Fragen haben all das hier doch überhaupt erst ausgelöst. Hast du nichts daraus gelernt, dass du sie gestellt hast? Warum kannst du nicht den Mund halten und dich benehmen wie alle anderen auch? Warum kannst du nicht einfach tun, was alle dir sagen, hm?
» Weil sich dann nie etwas ändern würde. Alles Schlimme würde für immer bestehen bleiben.«
Genau. Nichts würde sich je ändern, und wo stünden wir dann? Es ist wichtig, dass du das nicht vergisst und auch künftig daran glaubst.
» Was meinst du damit? Makel, antworte mir! Warum ist es wichtig, dass ich es nicht vergesse? Bitte, Makel. Hat es etwas mit Thomas zu tun? Oder damit, meine Eltern zu befreien?«
Aber es herrschte nur Schweigen, und jetzt hielten sie vor einem langgestreckten, zweistöckigen Fachwerkhaus mit weiß gekalktem Putz zwischen den Querbalken. Laternen leuchteten hinter halb geschlossenen Fensterläden hervor, und ein Kohlenfeuer glomm einladend im Hausinneren. Ein betörender Geruch nach frisch gebackenem Brot, gekochtem Fleisch und Gemüse lag in der Luft. Ans Haupthaus angebaut war ein großer Schuppen, der einen mächtigen Amboss und eine ganze Auswahl an Eimern, Zangen, teilweise übermannshohen Hämmern und anderen Werkzeugen enthielt.
» Das ist dein Zuhause?«, fragte Aspin ehrfürchtig.
» Das müssen Riesen gebaut haben«,
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