Das Wispern der Schatten - Roman
einer Meinung und eines Willens. Wir sind eins, Freda.«
» Wir sind eins«, wiederholte sie. Es klang schön, wenn auch etwas seltsam.
» Dann lass uns zusammen loslaufen, Freda! Wir machen ein Wettrennen. Erst einmal bis an den Horizont, die Linie dort in der Ferne.«
Entzückt von der Idee sprang sie vom Wagen und in den Boden. Die Straße hier war gepflastert, also gab es nicht zu viele Baumwurzeln, die sie hätten aufhalten können. Sie kam wieder hoch und stürmte voran, wobei ihr Fleisch mit dem Material der Straße verschmolz und es rasch durchschnitt.
» He, du schummelst!«, rief der Sonderbare, als er eilig das Pferd freiließ und ihm im Geiste befahl, ihnen zu folgen. Dann verlängerte er seine perfekten Gliedmaßen und begann, hinter Freda herzurennen. Er huschte über den Boden und berührte ihn nur leicht etwa alle zehn Meter. Er überholte sie rasch und schuf sich dann einen Umhang, sodass er mit noch höherer Geschwindigkeit in die Luft steigen und voransegeln konnte.
Hinter ihm polterte Freda einher wie ein Erdbeben und brachte seine flüchtigen Schritte absichtlich aus dem Takt, wann immer er gezwungen war, den Boden zu berühren. Der Sonderbare lachte wie ein entzücktes Kind, obwohl er kaum genug Luft dazu bekam. Er wurde unweigerlich langsamer, und Freda konnte zu ihm aufschließen.
Was für ein erstaunliches Geschöpf sie doch war. Einer der Gründe, weshalb der Sonderbare das Wettrennen vorgeschlagen hatte, war der gewesen, dass er sie auf die Probe hatte stellen wollen. Die Tatsache, dass sie mit ihm mithalten konnte, war an sich schon überraschend, aber auf einer längeren Strecke wäre sie mit ihrer unermüdlichen, auf Stein gegründeten Ausdauer vielleicht sogar in der Lage gewesen, ihn zu überholen, weil er früher oder später müde werden würde. Kein Wunder, dass die Andersweltler sie haben wollten!
Und doch hatte der Narr Goza einfach vorgehabt, sie als Zwischenmahlzeit zu verspeisen. Hieß das, dass den Andersweltlern gar nicht so recht bewusst war, was in ihr steckte? Das hätte zugleich bedeutet, dass sie höchstwahrscheinlich auch nichts von ihrer Suche nach den verlorenen Tempeln, den alten Göttern und Freistatt wussten. Umso besser für ihn. Konnte es sein, dass dieses schlichte Gemüt von einem Golem ihm endlich das Geas ausliefern würde, nachdem alles andere versagt hatte? Unglaublich, wenn es so sein sollte, aber bezeichnend ironisch. Dort, wo seine Ränke und Intrigen zu oft vereitelt wurden, fanden Vertrauen und Unschuld einen Weg. Und er war noch nie jemandem begegnet, der so unschuldig wie Freda war. Er stellte fest, dass sie ihn so sehr bezauberte, wie seine Natur sie verabscheute. In mancherlei Hinsicht würde es eine Schande sein, den Augenblick zu erreichen, in dem jede ihrer Illusionen zerstört und sie dadurch zugrunde gerichtet werden würde. Aber so waren der Lauf der Dinge, das Wesen seiner Existenz und die Natur seines Willens. So, wie es immer gewesen war, würde es auch immer sein, und dorthin zu gelangen bereitete ihm noch immer Freude.
Bei Einbruch der Dunkelheit lenkte Thomas ihren Wagen zwischen den Bäumen hervor auf eine Straße, die durch eine Ansammlung kleiner, schwach beleuchteter Gebäude führte. » Willkommen in Linderfall! Es sieht vielleicht nicht nach viel aus, aber es gibt noch ein paar Einödhöfe ringsum und ein Sitzungshaus dahinten. Meine Schmiede liegt gleich hinter dem Bach dort drüben.«
» Es ist still«, sagte Jillan und sah sich misstrauisch um.
» Aber wir werden beobachtet«, erklärte Ash und rieb sich den Nacken, als ob er kribbelte.
» Die Leute hier sind zurückhaltend, aber friedfertig«, sagte Thomas leise. » Sie begegnen Fremden aus gutem Grund mit Misstrauen. Einige der anderen Waldsiedlungen sind weitaus kriegerischer als wir. Aber die Leute werden morgen früh alle kommen und euch begrüßen, ihr werdet schon sehen, wenn Bion erst Gelegenheit gehabt hat, euch in Augenschein zu nehmen und allen zu sagen, dass die Luft rein ist.«
» Bion ist euer Zauberer, nicht wahr?« Aspin nickte. » Ist er euer heiliger Mann?«
Thomas zögerte mit der Antwort und sagte schließlich: » So könnte man das ausdrücken. Die Leute bitten ihn von Zeit zu Zeit, ihnen etwas zu erklären, und dann entschließt er sich, entweder ihnen zu antworten oder nicht. Es ist nicht immer klar ersichtlich, ob er eine Antwort weiß oder ihr aus dem Weg geht. Einmal habe ich ihm eine recht einfache Frage gestellt, und er hat geschwiegen.
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