Das Wispern der Schatten - Roman
zu schlafen. Er schob den übergroßen Haufen Kissen von sich, um sich freier bewegen zu können.
» Makel, bist du da? Was ist gestern Nacht geschehen?«
Die einzige Antwort kam von den Vögeln, die jenseits der Fensterläden zwitscherten. Ihr Gesang klang schal.
Er setzte die Füße auf den Boden und bemerkte, dass er nur seine Unterwäsche trug. Wo waren seine übrigen Kleider? Eine Bodendiele knarrte unter seinem Fuß, und er hörte, wie sich daraufhin unter ihm jemand bewegte: Schritte kamen eine Treppe herauf und näherten sich ihm. Wo sind meine Kleider? Die Tür des Zimmers schwang auf.
» Bist du wach, mein Lieber?«, ertönte Sabellas Stimme, und die Frau des Schmieds trat ein. » Ich habe dir deine Kleider mitgebracht. Gewaschen und geflickt.«
» V…vielen Dank… gnädige Frau«, erwiderte Jillan, dessen Zunge sich im Mund geschwollen anfühlte.
» Unten stehen Brot und Honig, die du dir zum Frühstück nehmen kannst. Du magst doch Honigbrot, oder?«
» J…ja. Das ist meine Lieblingsspeise«, sagte Jillan und vermisste plötzlich schmerzlich sein Zuhause. Sabella sah fastwie seine Mutter aus, und sie war freundlich und liebevoll. » Ich komme sofort nach unten. Ich ziehe mich nur erst an.«
» Sehr gut, mein Schatz. Ich setze Tee auf.« Sie lächelte sanft und eilte geschäftig wieder aus dem Zimmer.
Jillan verlor keine Zeit und war bald unten in der Essecke, wo Stara schon saß und auf ihn wartete.
» Da bist du ja, Schlafmütze. Mama hat gesagt, du hättest zu viel Bier getrunken.«
» Wo sind Ash und Aspin?«, fragte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
» Sie sind nicht mehr da.«
» Nicht mehr da!«, wiederholte er entsetzt. » Sind sie nach Hyvans Kreuz aufgebrochen?«
» Nein, du Dummkopf! Sie sind Bion besuchen gegangen. Betha und Ausa würden sie doch nicht einfach nach Hyvans Kreuz abreisen lassen. Aber du magst das Honigbrot nicht, oder? Ich kann deines mit aufessen, wenn du es nicht willst.«
» He, das ist meins!«, rief Jillan und schnappte sich die dicke Brotscheibe gerade noch, bevor sie in Staras Mund verschwinden konnte. Er war schon wieder ausgehungert.
» Gierschlund!«, murrte sie.
» Komm schon, Stara«, sagte Sabella tadelnd, als sie mit dem Tee hereinkam. » Du hattest heute Morgen bereits mehrere Portionen.«
» Ich wachse noch. Das sagst du die ganze Zeit.«
» Dann geh draußen im Wald auf die Jagd nach etwas, wenn du Hunger hast. Jillan ist unser Gast.«
» Der Wolf ist da draußen. Das ist mir zu unsicher.«
» Oh, der Wolf würde nie einen Menschen angreifen«, sagte Jillan zwischen zwei Bissen. » Zumindest glaube ich das nicht.«
» Da hast du ’s«, sagte Sabella mit verschränkten Armen und starrte ihre Tochter strafend an.
» Ach, schon gut«, seufzte Stara übertrieben. » Aber so werde ich doch nie groß und stark! Ich bringe Jillan zu Bion. Vielleicht schenkt mir der Zauberer eine Honigwabe.«
» Vielleicht«, räumte Sabella ein.
» Komm, Jillan. Bist du denn immer noch nicht fertig?«
» Fertig«, sagte er mit einem Schmatzen und schlürfte den Tee hinunter. » Danke, Frau Eisenschuh.«
» Gern geschehen, mein Lieber. Nun lauft zu, sonst ist die Sonne schon untergegangen, bevor ihr zurück seid.«
Jillan warf einen Blick zwischen den Fensterläden hindurch. Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten. Er schob den Stuhl zurück und rannte Stara nach, so schnell er konnte. Sie liefen an der Schmiede vorbei, die voller Klirren, Zischen, Dampf und Rauch war.
Stara blieb einen Moment lang stehen, um zuzusehen. » Da kämpft Papa gegen einen Drachen. Das Klirren kommt davon, dass sein Hammer auf die Metallschuppen des Drachen trifft. Sie kämpfen ständig. Papa gewinnt immer, und dann hat der Drache eine Weile Angst vor ihm, aber er hat kein besonders gutes Gedächtnis und will bald wieder gegen ihn kämpfen, als wäre er ein ganz anderer Mensch. Aber komm weiter!«
Sie rannte davon, so dass ihr Haar wie der Schweif eines Kometen hinter ihr herströmte, und Jillan musste die Beine in die Hand nehmen, um sie auch nur in Sichtweite zu behalten. Sie sauste über die Trittsteine in einem Bach, dessen glucksendes Wasser so klar war, dass es schon fast gespenstisch wirkte. Im Zickzack liefen sie dann durch einen Hain und sprangen über die verspielten Wurzeln, danach durch eine wilde Wiese voller tückischer Brombeerranken, müde nickender Blüten, Insekten und kleiner Geschöpfe, die Verstecken spielten. Die Sonne wärmte und blendete
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