Das Wispern der Schatten - Roman
dass er sie hätte treffen können, und so musste er durch den Bach waten. Es war jetzt tiefe Nacht.
Jillan führte sie hinter der Schmiede und dem Haus herum und blieb zwischen den Bäumen, so dass sie für niemanden drinnen zu sehen sein würden. Die Stallungen lagen jenseits des Hauses. Jillan und Aspin schlichen weiter.
Im Haus kam ein Mädchen an den offenen Fensterläden vorbei und zeichnete sich im Gegenlicht ab. Aspin trat vor. » Be…«
Jillan hielt Aspin mit der Hand den Mund zu und schleifte ihn unter einigen Mühen wieder zurück zwischen die Bäume. Der Schattenriss blieb stehen und lehnte sich eine Sekunde lang aus dem Fenster, schüttelte dann aber den Kopf und verschwand.
Jillan stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. Es war ein Glück, dass Aspin sich nicht zu sehr gewehrt hatte.
» Ich verstehe das nicht«, beklagte sich Aspin. » Es ist dunkel und kalt hier draußen. Ich will dorthin, wo es warm ist und wir Freunde und Familie haben. Ich will ein bisschen Bier und gutes Essen.«
» Ich auch, Aspin, aber es ist alles nicht echt.«
» Was? Natürlich ist es echt. Ich will, dass es echt ist.«
» Genau. Es ist alles, was du je gewollt hast, alles, was ich je gewollt habe. Deshalb weiß ich ja auch, dass es nicht echt sein kann.«
Aspin rieb sich die Schläfen, als ob er Kopfschmerzen hätte, und legte die Stirn in Falten.
Auf den hölzernen Stufen vor dem Haus erklangen Schritte. » Jillan! Aspin! Es wird Zeit hereinzukommen!«, rief Stara.
Das Heulen des Wolfs klang immer verzweifelter. Jillan hielt sich einen Finger an die Lippen und mahnte Aspin, still zu bleiben. Er zog seinen Freund um die Hausecke, quer über den Hof und in den Stall. Drinnen standen zwei Stuten– eine braune und ein Apfelschimmel– und schnaubten neugierig.
» Sattele sie«, wies Jillan Aspin an, der sich nun ein wenig zielstrebiger bewegte als zuvor.
Eine Minute später hatten sie die Pferde aus dem Stall geholt. Jillan stieg auf den Apfelschimmel und sah Aspin an. » Bereit? Wir müssen durch den Weiler zurückreiten, um eine Straße zu finden, die wir kennen. Wir müssen schnell reiten.«
» Bereit.« Aspin nickte müde. » Ich fühle mich aber gar nicht gut. So, als hätte ich seit Tagen weder gegessen noch geschlafen.«
» Ich weiß. Und du hast wahrscheinlich auch beides nicht getan. Komm schon. Los!«
Sie trieben die Pferde zum Galopp und preschten vors Haus. Thomas stürmte aus der Vordertür.
» Kommt zurück!«, schrie er. » Ich zeige euch die Schleichwege nach Hyvans Kreuz!«
Aber Jillan hatte nicht vor anzuhalten. Er beugte sich über den Hals seiner Stute, trieb sie in einen noch schnelleren Lauf und warf nur einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass Aspin nach wie vor bei ihm war.
Sie schossen durch den Weiler und ritten die blassen Gestalten nieder, die aus den Häusern hervortraten, um ihnen den Weg zu versperren. Eine Mutter, die sich einen Säugling an die Brust drückte, stand wimmernd vor ihnen.
» Halt nicht an!«, rief Jillan Aspin zu und trieb sein Pferd durch das Trugbild hindurch. » Reite dem Heulen des Wolfs nach!«
Sie kamen am letzten Gebäude von Linderfall vorbei und gelangten in die tiefe Schwärze unter den Baumkronen des Waldes, die das Mondlicht nur an wenigen Stellen zu durchdringen vermochte. Aspin zügelte sein Pferd.
» Jillan, bei der Geschwindigkeit ist es zu gefährlich. Die Pferde werden über eine Wurzel stolpern, oder wir prallen gegen einen tie f hängenden Ast.«
» Nein! Es ist alles nicht echt. Vertrau mir!«
Aspin setzte Jillan mit einem tollkühnen Aufschrei nach. Sie donnerten ein paar Meilen weit durch die Wälder und sahen dann jenseits der Bäume etwas helleres Grau.
» Die Straße. Endlich!«
Sie wurden langsamer, als sie näher herankamen und auf den fest gestampften Boden einbogen. Irgendwie wirkte es nicht richtig.
» Wir sind wieder auf dem Hof!«
Sie waren im Kreis geritten. Der Stall stand zu ihrer Rechten, Thomas’ Haus zur Linken.
» Aber wie kann das sein?«
» Ich bin mir nicht sicher, aber wir bleiben nicht hier«, sagte Jillan entschlossen und rammte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Der Apfelschimmel weigerte sich, auch nur einen Schritt zu machen.
Die dunklen Umrisse eines Riesen und eines Zwergs kamen um die Hausecke. Der Riese wog einen Hammer in der Hand, der so groß wie Jillan war. Rotes Licht aus der Pfeife beleuchtete Bions Gesicht.
» Diese Pferde wissen, wem sie gehören. Sie rühren sich
Weitere Kostenlose Bücher