Das Wispern der Schatten - Roman
blieb leer, aber er duckte sich leicht, als wollte er sich vor einem Schlag auf den Kopf schützen. Das tote Äußere des Mannes erinnerte Jillan an die öde Welt der Erlöser. Doch es gab ein Leben jenseits jener Welt. Es gab Hoffnung darin und auch eine gewisse Macht, ob sie nun hervorsprudelte oder ein ersterbender Funke war.
» Drei schöne Töchter, die in dir weiterleben«, flüsterte Jillan so sacht wie ein herabfallendes Blatt. Die Tiere im Tunnel wurden langsamer, und es trat Windstille ein, als ob die Zeit von der Vision angehalten worden wäre, die nun in der Luft stand. » Und eine Frau. Sabella, Ausa, Betha und die süße Stara. Weiß gekleidet. Lächelnd. Neu-Heiligtum fiel.«
» Nein! Bitte nicht!«, flehte Thomas auf einmal. » Nicht noch einmal! Zwing mich nicht, es zu sehen!«
» Der Heilige erschien. Ihre weißen Kleider wurden rot, ihre rosigen Gesichter weiß.«
» Neeiin!«, ertönte Thomas’ herzzerreißender, vernichtender Schrei, während ihm heiße Tränen über die Wangen strömten. Das Leben floh aus dem Tunnel. Ash und Aspin verbargen ihre Gesichter.
Jillan zögerte. Du musst es tun. Es ist eine Art Gnade. Eine entsetzliche Gnade.
» Du hast dich geweigert, es hinzunehmen, Thomas, und wolltest nicht daran glauben. Dann hat Bion dir erzählt, dass es gar nicht geschehen wäre, nicht wahr? Er hat dir versichert, es wäre nur ein Albtraum gewesen, und alles wäre gut. Sieh doch, hier sind deine Töchter und deine Frau. Sie lächeln immer noch und heißen dich willkommen.«
» Nein! Bitte nicht!« Seine Stimme war heiser und rau, als würde ihm die Kehle aufgesägt.
» Du hast sie vor der Welt versteckt, an einem Ort, der immer hell war, aber der schwarze Wolf hat am Ende doch ihre Witterung aufgenommen und sich auf sie gestürzt. Nichts hat die Macht, die Schatten der Zeit und der Ereignisse für immer aufzuhalten, Thomas.«
Die Schultern des Hünen bebten, und sein Körper zitterte, als würden ihm die Gliedmaßen ausgerissen.
» Die weißen Mäuse wurden zuletzt vom schwarzen Wolf verschlungen.«
Sein Aufschrei war urtümlich: der eines Menschen, der zum ersten Mal den Tod wahrhaftig versteht, eines Kindes, dem bewusst wird, dass ein Elternteil nicht nur auf einer langen Reise ist, einer Frau, die herausfindet, dass das, was sie hervorbringt, nicht von Dauer ist, geboren aus einem Leid und einer Qual, gegen die tröstliche Lügen nichts ausrichten können.
Sogar der Makel war sprachlos.
Konnte die Welt je wieder in Gang kommen? Die Natur des Daseins war eine alles verschlingende Begierde und Furcht vor dem Nicht-Sein, nicht wahr?
» Nein!«, flüsterte Thomas lautlos.
Aus seinem Innersten brachte Jillan einen Funken hervor und schuf einen kurzen Augenblick der Helligkeit im Tunnel. » Sie leben in dir weiter, Thomas. Lass das den hellen Ort sein, an dem du sie hältst. Sonst werden selbst deine Erinnerungen an sie verloren gehen, und es wird so sein, als hätten sie nie gelebt, als wären sie nichts als ein Traum gewesen, der mit dem Erwachen des Schläfers verblasst.«
» Ich will das nicht!«, flehte der Schmied.
» Ich weiß, und vergib mir, dass ich grausam bin. Aber du musst voll und ganz bei uns sein, wenn ich auch nur die geringsten Aussichten haben soll, meine Eltern zu befreien und mit ihnen zu entkommen– mit ihnen, die doch einst deine Freunde waren. Ich kann nicht zulassen, dass du dich weiterhin in der Vergangenheit oder in deinen eigenen Gedanken verlierst.«
Thomas nickte. » Aber danach lässt du mich ruhen?«
» Ja«, antwortete Jillan traurig. » Dann kannst du ruhen.«
Ash hatte die Hände wieder vom Gesicht gelöst. Er blähte die Backen. » Das hat mir wirklich einen Schrecken eingejagt!«
Aspin blickte verlegen drein. » Ich glaube, ich habe mir in die Hosen gemacht.«
» Dann bleib gefälligst nicht neben mir sitzen!«, beklagte sich der Waldläufer und brachte langsam ein Lächeln zustande. » Sieh doch, du hast den Sack da beschmutzt. Er stinkt.«
» Bist du sicher, dass du nicht lieber wieder in deiner Hütte im Wald wärst?«, fragte Jillan müde, dem die Augen erneut zuzufallen begannen.
» Nein, bin ich nicht!«, antwortete Ash. » Aber wenigstens war ich schlau genug, eine Flasche von meinem Selbstgebrauten mitzunehmen. Hier, Jillan, nimm einen Zug. Komm schon, du siehst aus, als ob du es nötig hast. Nein, zier dich nicht. Wenn ich mich recht entsinne, magst du es doch eigentlich ganz gern.«
Jillan nippte an dem starken Alkohol und
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